Eine Wahl ohne Überraschungen

Bei den Regionalwahlen in Russland kann die Regierungspartei Einiges Russland fast ohne Gegenwehr ihre Position festigen

  • Daniel Säwert
  • Lesedauer: 6 Min.
Jede Stimme zählt: Auf dem Land sorgen mobile Wahlbüros dafür, den demokratischen Schein der Abstimmungen zu wahren.
Jede Stimme zählt: Auf dem Land sorgen mobile Wahlbüros dafür, den demokratischen Schein der Abstimmungen zu wahren.

In Moskau wird an diesem Wochenende gefeiert, wenn auch in kleinerem Maßstab als in früheren Jahren. Die russische Hauptstadt begeht ihr Stadtfest zum 876. Gründungstag. Für Bürgermeister Sergej Sobjanin eine gute Gelegenheit, Moskau als moderne und lebenswerte Metropole darzustellen und sich auf seine dritte Amtszeit einzustimmen. Denn zeitgleich mit dem Stadtfest stimmen die Einwohner der 13-Millionen-Stadt über ihren zukünftigen Bürgermeister ab. Und Sobjanin kann sich wegen seines Images als effektiver Stadtmanager, der Moskau im Eiltempo modernisierte, zurücklehnen. Laut einer diese Woche veröffentlichten Hochrechnung des staatlichen Meinungsforschungsinstituts WZIOM wird der Amtsinhaber, der erstmals für die Regierungspartei Einiges Russland antritt, die Wahl mit 77,5 Prozent locker gewinnen. Einen ernsthaften Gegenkandidaten gibt es allerdings auch nicht. Einzig Russlands Kommunistische Partei KPRF konnte ein wenig für Aufmerksamkeit sorgen, als sie im Juli mit dem 35-jährigen Leonid Sjuganow den Enkel des russischen Kommunistenführers Gennadij Sjuganow aufstellte. Er könnte laut WZIOM mit sieben Prozent Zweitplatzierter werden.

In fast allen russischen Regionen, inklusive der im vergangenen Herbst annektierten ukrainischen Gebiete Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson, wird an diesem Wochenende über lokale und regionale Abgeordnete, Bürgermeister und Gouverneure abgestimmt. Über 81 000 Kandidaten bewerben sich auf mehr als 33 000 Mandate. Die meisten davon kommen von Einiges Russland, der KPRF und der populistischen LDPR. Kandidaten kleinerer Parteien und Unabhängige wurden vielerorts nicht zugelassen oder verkündeten kurz vor der Wahl ihren Rückzug. Bei den meisten der 4000 Abstimmungen dürfte es zugehen wie in Moskau. »Die Tendenz geht zu referendumsähnlichen Kampagnen, bei denen es für den amtierenden Gouverneur keinen ebenbürtigen Kandidaten gibt, sodass die Wahrscheinlichkeit seines Sieges hoch ist«, beschrieb der Leiter des wissenschaftlichen Rats des Zentrums für politische Konjunktur, Alexej Tschesnakow, bei einem Runden Tischen das kommende Wahlwochenende.

In vielen Regionen findet kaum Wahlkampf statt

Wahlen in Russland sind immer etwas mehr als ein einfacher Urnengang. »Wahlen sind ein Gradmesser für Normalität und eine stabile politische Situation«, sagt die Generaldirektorin des Instituts für regionale Probleme, Natalja Lingidrin. Und Moskau liegt viel daran zu zeigen, dass die Situation im Land nach über anderthalb Jahren Ukraine-Krieg normal ist. Dementsprechend verlief vielerorts der Wahlkampf. So mied die KPRF Kritik am System und am Krieg, den sie selbst unterstützt. Und die Partei Gerechtes Russland, die sich selbst als sozialdemokratisch bezeichnet, ist zu einer Gruppe von Frontkämpfern geworden, die lange Zeit mit dem Chef der Wagner-Söldner, Jewgenij Prigoschin, kokettierte, nach dessen Aufstand im Juni in Erklärungsnöte geriet und die Füße stillhielt, wo sie nur konnte. Soziale Probleme spielten für die Parteien keine Rolle. In vielen Regionen habe es die »inhaltsloseste, langweiligste und unauffälligste Kampagne in der neuesten Geschichte Russlands« gegeben, halten die unabhängigen Beobachter von Golos, die sich für die Rechte von Wählern einsetzen, in einem ausführlichen Bericht fest.

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Wie wenig die Kandidaten häufig zu sagen hatten, zeigen die TV-Debatten. In Moskau ließ Sobjanin die Debatte sausen, in Orjol und Samara erschien nur ein Kandidat. In der Region Kemerowo fiel die Debatte ganz aus, weil weder die Kommunistin Jekaterina Gruntowaja noch der LDPR-Vertreter Stanislaw Karpow erschien. So stand der verdutzte Moderator allein im Fernsehstudio.

Trotz aller Langeweile und Vorhersehbarkeit gibt es durchaus umkämpfte Regionen, in denen Einiges Russland Probleme bekommen könnte. Vor allem die KPRF rechnet sich in Lipezk, Transbaikalien, Jakutien und Archangelsk gute Chancen auf viele Sitze in den lokalen und regionalen Parlamenten aus. Und in Welikij Nowgorod versucht die sozialliberale Jabloko-Partei mit Antikriegslosungen die Fünfprozenthürde für das Stadtparlament zu schaffen.

Moskau will den »Protestgouverneur« von Chakassien bestrafen

In den vergangenen Wochen waren die Augen russischer Politikbeobachter auf Chakassien gerichtet. Denn die kleine sibirische Republik war die einzige Region, in der es zwischen dem 35-jährigen Walentin Konowalow (KPRF) und dem Dumaabgeordneten von Chakassien, Sergej Sokol, einen echten Wahlkampf um den Gouverneursposten gab.

Konowalow wurde 2018 während der Protestwelle gegen die Erhöhung des Rentenalters in sein Amt gewählt. Damals verloren in den Regionen Primorje, Chabarowsk, Wladimir und in Chakassien die vom Kreml unterstützten Kandidaten die Abstimmung. Nachdem der LDPR-Gouverneur Oleg Koschemjako 2021 in Wladimir sein Amt niedergelegt hat und dessen Parteikollege Sergej Furgal 2020 wegen des Vorwurfs, Morde beauftragt zu haben, verhaftet und im Februar 2023 zu 22 Jahren Haft verurteilt worden ist, ist Konowalow der letzte verbliebene »Protestgouverneur«. Der 35-Jährige ist beliebt, das zeigen nicht zuletzt die Unterstützerunterschriften anderer Politiker, die für die Wahl benötigt werden. 17 der 28 eingereichten Unterschriften stammen nicht von KPRF-Vertretern.

Sokol hingegen hatte bis zu seiner Wahl in die Duma 2021 mit Chakassien nichts zu tun und versuchte sich als Kriegsteilnehmer in der Ukraine zu profilieren. Er erhielt dafür die volle Unterstützung des Kreml, auch »weil ein Veteran der Militärischen Spezialoperation nicht verlieren kann«, wie eine Quelle aus dem Umfeld der Präsidialverwaltung dem Online-Medium Meduza verriet. Eine Niederlage Sokols würde hingegen bedeuten, dass der Kreml sein Versprechen, dass eine Teilnahme am Krieg sozialen und beruflichen Aufstieg bedeute, nicht halten kann. Notfalls, so die Quelle von Meduza, könnte die Wahl einfach annulliert werden, wie bereits 2018 in Primorje geschehen.

Dass Moskau sich dermaßen für die Wahl Sokols einsetzte und sich immer wieder in den Wahlkampf einmischte, ist laut dem Politikwissenschaftler Alexander Kynew eine »Rache für 2018« und den »nicht genehmigten Sieg« des Kommunisten. Mehrfach beschwerte sich die KPRF, dass gegen ihren Kandidaten eine Kampagne laufe und er in den Staatsmedien ignoriert werde. Zuletzt versuchten »Investigativjournalisten«, Konowalow eine bevorstehende »Müllkatastrophe« in der Hauptstadt Abakan anzudichten.

Doch Moskaus Kampagnen liefen ins Leere. Konowalow konnte bei den Wählern mit seiner Herkunft aus der Region und seiner einfachen Art punkten. Spätestens nach dem TV-Duell der beiden Kandidaten Mitte August war Moskau klar, dass Sokol das Ruder nicht mehr herumreißen kann. Schlimmer noch: Mehrere Politiker von Einiges Russland traten aus ihrer Partei aus und unterstützten Konowalow öffentlich. Nachdem Sokol am 1. September in ein Moskauer Krankenhaus eingeliefert worden war, sagte er einen Tag später seine Teilnahme an der Wahl ab. Damit scheint die Wiederwahl Konowalows sicher.

In den annektierten Gebieten steht das Ergebnis schon fest

In den »neuen Gebieten«, wie Russland die annektierten ukrainischen Regionen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson nennt, hat der Kreml jegliche Überraschungen von vornherein ausgeschlossen. Beim ersten Urnengang nach den »Referenden« im vergangenen Jahr sind Einzelkandidaten nicht zugelassen. Gewählt werden können lediglich die Parteien. Nach demselben Muster ließ Moskau bereits auf der Halbinsel Krim nach deren Annexion 2014 abstimmen. Bis kurz vor der Wahl wussten die Menschen in den Gebieten nicht einmal, wer sich auf den Listen befindet. »Zur Gewährleistung der körperlichen Unversehrtheit der Kandidaten« habe man auf die Veröffentlichung der Namen verzichtet, hieß es dazu aus den Wahlkommissionen. Laut Recherchen der Investigativplattformen Waschnyje istorii und Conflict Intelligence Team gab es genug Schwierigkeiten, überhaupt Listen zu erstellen. Gefüllt wurden die Lücken in Reihen von KPRF, LDPR und Gerechtes Russland letztlich mit Arbeitslosen, Hausfrauen, Rentnern und Staatsangestellten, wie die Plattformen schreiben. Bekannte Politiker hingegen stehen alle auf der Liste von Einiges Russland, der Sieg der Partei ist sicher. Bereits Mitte August verkündete das WZIOM eine Wahlbeteiligung von über 50 Prozent in allen Gebieten und prognostizierte auch gleich den Wahlausgang. Wenig überraschend soll Einiges Russland in den vier Regionen erdrutschartige Erfolge von mindestens 80 Prozent der Wählerstimmen einfahren.

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