Lasst 100 Mühlen blühen!

»Alternative Dänemark«: In den 70er Jahren wurde dieses Land zur erheblich besseren Gesellschaft erklärt – diese Vorstellung hat Detlef Siegfried untersucht

  • Markus Mohr
  • Lesedauer: 5 Min.
Das fanden die deutschen Hippies toll: Rückenbemalung in Christiana in den 70er Jahren.
Das fanden die deutschen Hippies toll: Rückenbemalung in Christiana in den 70er Jahren.

Dänemark, das nördliche Nachbarland der Bundesrepublik, löst in hiesigen Breitengraden so gut wie keine negativen Emotionen aus: Eine Dänemark-Kritik, gar ein Dänemark-Hass ist völlig unbekannt. Für die Generation, die in der westdeutschen Alternativbewegung der 70er Jahre sozialisiert wurde, ist das Gegenteil der Fall: In vielen Bereichen wurde damals das im Vergleich zur Bundesrepublik deutlich kleinere Dänemark zur erheblich besseren Gesellschaft erklärt.

In dieser Perspektive wurde die BRD beispielsweise vom Germanisten Wolf Wucherpfennig, der an der Universität Roskilde lehrte, als »ein graues Land« beschrieben, »das vor allem aus Autobahnen« bestehe, auf denen »humorlose Ordnungsfanatiker« unterwegs seien, die sich »einander in einer unverständlichen Kommandosprache anzubrüllen« pflegten. Demgegenüber erschienen das Roskilde-Festival, der Kopenhagener Freistaat Christiana und das alternative, aus einer »reisenden Hochschule« hervorgegangene Schulprojekt Tvind als praktizierbare Alternativen zur der bestehenden kapitalistischen Ordnung. Damit glaubte man, der als hohl und leblos empfundenen bürgerlich-repräsentativen Demokratie Politikmodelle im Geiste einer visionären Basisdemokratie entgegensetzen zu können.

Gegen die Konsumgesellschaft, den Konformismus, die Entfremdung in den herrschenden Verhältnissen und die Zwangsgemeinschaft der Familie stand die Idee einer selbstgewählten Gemeinschaft Gleichgesinnter. Sie legte ihren Fokus immer jenseits von Disziplin und konformer Ordnung auf lässige Körperideale, Spontaneität und Selbsttätigkeit. Für nicht wenige der westdeutschen Alternativtouristen, der Backpacker und Drifter war auf Reisen in den Nachbarstaat die Suche nach Selbstverwirklichung und Solidarität angesagt, von der man sich nicht weniger als die Aufhebung der Trennung von Hand- und Kopfarbeit versprach, von Politischem und Privatem, von Arbeit und Freizeit.

Diese nordischen Versprechungen hat der an der Universität Kopenhagen lehrende Historiker Detlef Siegfried in seinem neuen Buch »Alternative Dänemark« untersucht. Er fragt, wie es dazu kam und was es bedeutet, dass linksalternative Jugendliche, »die mit der deutschen Nation nichts zu tun haben wollten, sich selbst als Kosmopoliten kreierten«. Fokussiert auf den Zeitraum von 1965 bis 1985 durchmisst Siegfried auf Basis eines enormen Quellenbestands zwei Dekaden der westdeutsch-dänischen Beziehungen im Alternativmilieu. Dabei spart er weder die Beziehungen des SDS zu der Socialistisk Folkeparti noch die Auseinandersetzungen um die Etablierung von Abenteuerspielplätzen in Kopenhagen aus. Letztere hatten in der Bundesrepublik eine große Strahlkraft für Stadtplaner und Landschaftsarchitekten. Siegfried erinnert daran, wie sich der SDS ab Mitte der 60er Jahre auf die Suche nach einem dritten Weg »jenseits von Sozialdemokratie und Kommunismus« begab, indem er das Wirken der heute weitgehend vergessenen, langjährigen stellvertretenden SDS-Vorsitzenden Ursula Schmiederer beleuchtet.

Ausführlich referiert Siegfried die Debatten in der dänischen Öffentlichkeit, die entstanden, nachdem ein konservativer Justizminister der Familie von Rudi Dutschke nach dem Attentat im Frühjahr 1968, das der prominenteste SDS-Sprecher nur knapp überlebte, in Aarhus Asyl gewährt hatte. Von einer solchen heute fast vollständig abgeschafften dänischen Liberalität in Asylfragen profitierten übrigens auch Exponenten der Neuen Rechten der Bundesrepublik wie Henning Eichberg, was Siegfried ebenfalls ausführlich darlegt.

Es ist überhaupt enorm, welche Mengen an Material er für dieses Buch gesichtet hat. Man gewinnt den Eindruck, als könnte ihm nicht eine einzige Undergroundgazette der westdeutschen Alternativbewegung unbekannt geblieben sein. Bemerkenswert ist, was er dabei zu Tage fördert: Wer weiß denn heute noch, wie sich der einstige Linksradikale Thomas Schmid noch vor seiner Karriere bei Axel Springer vom Anhänger eines renitent-militanten Regionalismus zu einem Verfechter der deutschen Nation wandelte?

Überhaupt hat Siegfried auf über 600 Seiten viel Stoff zum Nachdenken und Schmunzeln versammelt. So betrachtet er auch die »Bundesbürger im Pornoparadies« Dänemark, wo die Zensurschranken eher fielen. Anfänglich gab es noch linke Debatten darüber, ob diese Form der Liberalisierung ein revolutionäres Moment beinhalten könnte oder ob die Vermarktung der Sexindustrie jeder Idee von Libertinage den Garaus machen würde. Unter den 50 000 Besuchern der Kopenhagener Pornomesse Ende 1969 befanden sich nach dem Eindruck westdeutscher Berichterstatter »mehr Deutsche als Dänen«, altersmäßig »mehr Mittelalter als Jugend«, wie Siegfried schreibt. Eine »Gegenkultur« im Geiste eines neuartigen alternativen Milieus war das jedenfalls nicht.

Zwei weiteren Themen hätte sich Siegfried unbedingt widmen sollen: der Ausstrahlung der dänischen Anti-AKW-Bewegung des Jahres 1975 mit ihrem unvergessenen Anstecker »Atomkraft? Nej tack!«. Die fröhlich lachende rote Sonne auf gelbem Grund funktionierte bei den Kämpfen um den AKW-Bauplatz in Brokdorf 1976/77 und sie funktioniert auch heute noch. Des Weiteren fehlt ein Abriss zur Interaktion zwischen den autonomen Hausbesetzer*innen aus Kopenhagen-Ryesgade und denen aus der Hamburger Hafenstraße. Stattdessen schildert Siegfried die Besetzung eines Eisenbahnausbesserungswerks in Frankfurt-Nied im Frühjahr 1981, wo ein »autonomes Freiland Intercity« ausgerufen werden sollte, um so etwas wie ein westdeutsches Christiania zu etablieren. Das aber misslang: In Reaktion darauf suchte die Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe unter Anwendung des Paragrafen 129a nach einer terroristischen Vereinigung namens »Schwarzer Block«. Und eben der tauchte dann etwas später in der Hausbesetzerbewegung immer wieder von neuem auf.

Das Cover dieses Buchs zeigt eine Zeichnung mit zwei sich freundschaftlich umarmenden Langhaarigen vor einer Mühle, die wie ein heutiges Windkraftwerk aussieht. Daneben steht die leicht verfremdete maoistische Parole: »Lasst 100 Mühlen blühen«. Die Zeichnung wurde einer 1980 publizierten Broschüre der Arbeitsgruppe Alternativschule der Technischen Universität Berlin entnommen, die diese im Fach Pädagogik nach einer Exkursion zu den Tvind-Schulen in Dänemark erstellt hatte. Sie waren ebenso internationalistisch wie ökologisch ausgerichtet. Lehrer und Schüler erbauten 1975 in Tvind die damals weltgrößte Windmühle zur Stromerzeugung.

Daran zu erinnern, heißt auch zu betonen, dass heute noch etwas anderes wünschbar ist als das, was auch den Leser*innen dieser Zeitung täglich vom Kapitalismus zugemutet wird. Dafür arbeitet der Wissenschaftler Detlef Siegfried, der am kommenden Sonntag 65 Jahre alt wird. Mine lykønskninger!

Detlef Siegfried: Alternative Dänemark. Kosmopolitismus im westdeutschen Alternativmilieu 1965-1985, Wallstein-Verlag, 640 S., geb., 49,40 €.

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