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Palliativmedizin: Schutzmantel für das Lebensende
Geschichte der Palliativmedizin: Ungünstige Krankheitsprognosen sind auch für Ärzte ein Dilemma
In der Palliativmedizin werden schwerkranke und sterbende Menschen von spezialisierten Ärzten, Pflegekräften und weiteren Therapeuten versorgt. Zu entsprechenden Stationen in Krankenhäusern gehören auch Sozialdienst und Seelsorge. Das lateinische Wort palliare bedeutet: einen (schützenden) Mantel umlegen. Im heutigen Verständnis und im übertragenen Sinn soll das Kleidungsstück die Beschwerden der Patienten bestmöglich lindern.
Ursprünglich, noch vor einigen Jahrhunderten, wurde palliare aber ganz anders verstanden: Die früheste Erwähnung stammt von Mitte des 14. Jahrhunderts. Ende des 16. Jahrhunderts war damit gemeint, dass nicht der Patient, sondern eine Krankheit »bemäntelt und nicht vollkommen geheilt« wird, wie es der italienische Chirurg Giovanni da Vigo zusammenfasste.
Zu den Wurzeln des Begriffs führte kürzlich eine Ringvorlesung am Berliner Medizinhistorischen Museum der Charitè. Der Medizinhistoriker Michael Stolberg von der Universität Würzburg war eingeladen worden, im Begleitprogramm zur Ausstellung »Da ist etwas. Krebs und Emotionen« zu sprechen.
Dass gerade Chirurgen mit an der Wiege der Palliativmedizin standen, erläutert Stolberg auch in seinem 2011 erschienenen Buch zur Geschichte der medizinischen Sterbebegleitung, das die Zeit ab 1500 bis heute umfasst. Chirurgen mussten unter den Verhältnissen der frühen Neuzeit damit rechnen, dass ihr radikaler Eingriff – etwa bei der Entfernung einer Geschwulst – tödlich ausging. Wenn sich Patienten operieren ließen, war das für sie mit großen Schmerzen verbunden, auch aus diesem Grund lehnten die Kranken das mitunter ab, oder der Eingriff erschien auch dem Chirurgen zu riskant. Dann hatte er sich mit einer »nur« palliativen Behandlung zu begnügen.
Ärzte hatten sich schon immer mit infausten, also ungünstigen Prognosen auseinanderzusetzen. Egal auf welchem Stand die Medizin war, bekamen die Experten mit etwas Erfahrung einen genauen Blick dafür, ob dem Patienten noch zu helfen war oder er sein Leiden eben nicht mehr lange überleben würde. Der Umgang damit konnte ganz verschieden sein. Einerseits gab es laut Stolberg die »hippokratische Mahnung«: Demnach sollten Unheilbare nicht behandelt werden. Ihr Sterben unter den Augen des Arztes, quasi in seinen Händen, könnte als dessen Unfähigkeit interpretiert werden, seinen Ruf schädigen und künftige Einnahmen verhindern. Andererseits begleiteten Ärzte immer auch Todkranke bis zum Schluss, ungeachtet dieser Mahnung. Gab es keine Therapie mehr, ging es um einen guten, möglichst gelinden Tod, ein sanftes Sterben.
Zur Schmerzlinderung standen zum Beispiel Opium-, Alraunen-, Bilsenkraut- oder Schierlings-Auszüge zur Verfügung. Damit wurden Schwämme getränkt oder ein »Schlaftrunk« bereitet. Wichtig war in diesen Fällen schon, dass die Sterbenskranken nicht zum Essen oder Trinken gezwungen wurden, aber beides entsprechend ihren Wünschen angeboten werden sollte. Auch für gute psychische Bedingungen sollte gesorgt werden.
Eine weitere Variante des Umgangs mit den infausten Prognosen bestand bis ins 20. Jahrhundert hinein darin, die Patienten über ihre schlechten Aussichten nicht etwa nur im Unklaren zu lassen, sondern ihnen sogar falsche Auskunft zu erteilen. Die Redewendung »Er lügt wie ein Arzt« stammt aus diesen Zeiten. Dem Patienten dürfe die schreckliche Wahrheit nicht zugemutet werden, seine Beschwerden würden sich sonst verschlimmern, war die Rechtfertigung. So sollte auch kein Pfarrer für die Sterbesakramente geholt werden.
Als Beispiel könnte der Schriftsteller Theodor Storm gelten, der 1887 die Diagnose Magenkrebs erhielt und darauf hin seinen Lebensmut verlor und depressiv wurde. Die besondere Volte in diesem Fall: Storm wurde in einer kleinen »Verschwörung« von Hausarzt und seinem Bruder, der ebenfalls Arzt war, zum Schein erneut untersucht – mit besserer Diagnose. Offenbar erleichtert konnte der Schriftsteller dann den »Schimmelreiter« vollenden, bevor er nach einem Jahr starb.
Ärztlicher Paternalismus in Bezug auf den Informationszugang ist zwar heute weniger wichtig oder anders ausgeprägt, auf der anderen Seite gewannen aber Selbstbestimmung und Autonomie des Patienten inzwischen an Bedeutung. Für Ärzte steht in der Regel nicht mehr die Frage, ob sie dem Patienten Diagnose und Prognose benennen, sondern wie sie es tun. Schulung und Übung für solche Gespräche, auch über »schlechte Nachrichten«, sollten zur medizinischen Ausbildung gehören. Das ist aber noch nicht überall verpflichtend.
Ein Mantel des Schweigens wurde mitunter auch in anderer Beziehung um die Menschen mit schweren, lebensbedrohlichen Krankheiten gelegt. Teils wurden »Unheilbaren-Häuser« eingerichtet. Diese sollten die Allgemeinheit zum Beispiel vor dem Anblick und der psychischen Wirkung von Krebskranken mit großen und übel riechenden Tumoren schützen. Die Erkrankung, so vermutete man lange, sei ansteckend und könne durch die Luft übertragen werden. Insbesondere Schwangere könnten auch allein durch den Anblick der schrecklichen Entstellungen ihre ungeborenen Kinder verlieren. Jedoch gab es die Häuser nur vereinzelt, viele Patienten blieben gänzlich unversorgt.
Die fehlende Rücksicht auf die Bedürfnisse Sterbender zog sich bis ins 20. Jahrhundert. Dazu gehören laut Stolberg bis in die 70er und 80 Jahre hinein bestehende »Wartezimmer« in Kliniken, in denen Menschen am Lebensende ihre letzten Tage verbrachten: »In diese Zimmer ging kein Arzt mehr.«
Als Geburtsstunde der modernen Palliativmedizin könnte das St Christopher’s Hospiz in Südlondon gelten. Es wurde 1967 von Cicely Saunders gegründet. Die englische Krankenschwester, Sozialarbeiterin und Ärztin begründete die moderne Hospizbewegung. Ihr ging es um bessere Lebensqualität für Menschen am Lebensende. Sie sollten ganzheitlich betreut werden, durch eine angepasste Schmerzbehandlung, aber auch mit persönlicher Wertschätzung und Selbstbestimmung bis zuletzt. Nach dem Vorbild von St Christopher’s entstanden allein in Großbritannien 200 Hospize. Saunders selbst starb 2005 im Alter von 87 Jahren in der von ihr gegründeten Einrichtung.
Auch in Deutschland gibt es heute eine gewisse palliativmedizinische Struktur: Unter anderem verfügen 15 Prozent der Krankenhäuser über eine der bundesweit rund 350 Palliativstationen. Hinzu kommen Hospize, ambulante Hospizdienste und weitere Angebote. 2018 hatten mehr als 12 000 Ärzte in Deutschland die Zusatz-Weiterbildung Palliativmedizin absolviert.
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