Mehr Waffen, weniger Wohlfahrt

Erstmals seit Jahrzehnten demonstrieren sechs Wohlfahrtsverbände gemeinsam gegen Sozialkürzungen

  • Eva Roth
  • Lesedauer: 6 Min.
Die Spitzen der Wohlfahrtsverbände, von links: Ulrich Lilie (Diakonie), Gerda Hasselfeldt (Deutsches Rotes Kreuz), Michael Groß (Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege und Arbeiterwohlfahrt), Aron Schuster (Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland), Kathrin Sonnenholzner (Arbeiterwohlfahrt), Eva Maria Welskop-Deffaa (Caritasverband), Rolf Rosenbock (Paritätischer Gesamtverband)
Die Spitzen der Wohlfahrtsverbände, von links: Ulrich Lilie (Diakonie), Gerda Hasselfeldt (Deutsches Rotes Kreuz), Michael Groß (Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege und Arbeiterwohlfahrt), Aron Schuster (Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland), Kathrin Sonnenholzner (Arbeiterwohlfahrt), Eva Maria Welskop-Deffaa (Caritasverband), Rolf Rosenbock (Paritätischer Gesamtverband)

Deutschlands »Verteidigungsausgaben sollen im kommenden Jahr auf das Rekordhoch von 70,97 Milliarden Euro steigen«, berichtet der Bundestag auf seiner Internetseite. Das entspricht einer Erhöhung der Militärmittel um mehr als 16 Prozent. Die Kosten der Waffenlieferungen an die Ukraine sind dabei nicht enthalten, so die Informationsstelle Militarisierung. Bei Sozialleistungen will die SPD/Grüne/FDP-Regierung hingegen sparen: Die Zuschüsse für die Wohlfahrtspflege sollen um rund 25 Prozent gekürzt werden. Dagegen haben am Mittwoch sechs große Wohlfahrtsverbände gemeinsam demonstriert und die Bundestagsabgeordneten aufgefordert, die Kürzungen zu stoppen. Eine Entscheidung wird am 16. November erwartet.

Wohlfahrtsverbände leisten soziale Arbeit, beraten verschuldete Menschen und Migranten, unterstützen Obdachlose, Jugendliche und Familien. Demonstrationen organisieren sie selten. Die Verbände sind auch politisch unterschiedlich aufgestellt. Doch am Mittwoch haben sie sich alle zusammengetan: Die AWO hat die Kundgebung in Berlin organisiert, und das Deutsche Rote Kreuz, der Paritätische, die Caritas, die Diakonie und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland haben mitgemacht. Alle Präsidentinnen und Präsidenten, Vorsitzende und Geschäftsführer sind gekommen und haben sich auf der Bühne vor dem Reichstagsgebäude versammelt. Denn die finanzielle Situation der Wohlfahrtspflege ist jetzt schon prekär, Angebote mussten eingeschränkt werden, und nun plant die Ampel-Regierung auch noch Kürzungen.

»Minimale Einsparung, maximaler Schaden«

Seit der Wiedervereinigung sei dies das erste Mal, »dass alle Verbände gemeinsam gegen den sozialen Kahlschlag demonstrieren«, sagte Michael Groß, Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, zu der die sechs Organisationen gehören. Insgesamt wolle die Bundesregierung 235 Millionen Euro einsparen, etwa bei der Migrationsberatung und den Freiwilligendiensten. Im Vergleich zum Gesamthaushalt ist dies eine sehr kleine Summe. »Minimale Einsparung, maximaler Schaden – das lassen wir uns nicht mehr gefallen«, sagte Groß, der auch AWO-Präsident ist, auf der Kundgebung, zu der laut AWO rund 3000 Menschen kamen.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Auch Sylvia Bühler, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Verdi, trat auf. Das ist nicht unbedingt selbstverständlich. Denn die Wohlfahrtsverbände sind auch Arbeitgeber und haben in dieser Rolle schon mal Konflikte mit Gewerkschaften. So hat Verdi Anfang dieser Woche AWO-Beschäftigte in Berlin zum Streik aufgerufen. »Wir wollen, dass alle gute Arbeitsbedingungen haben«, rief Bühler auf der Kundgebung – bei Wohlfahrtsverbänden sind die Gehälter teils niedriger als in kommunalen Einrichtungen, etwa in Kitas.

In Nordrhein-Westfalen hatten die Landes-Wohlfahrtsverbände bereits am 19. Oktober in Düsseldorf demonstriert – für eine angemessene Finanzierung der sozialen Infrastruktur, zu der Kitas, Ganztagsschulen, Pflegeeinrichtungen und Schuldnerberatung gehören. Es kamen mindestens 22 000 Menschen. Gewerkschaften haben den Protest unterstützt, sie waren aber nicht Mitveranstalter. Die Zeit sei zu knapp gewesen, heißt es beim DGB. Überdies wollten Gewerkschaften, dass auch die kommunalen Einrichtungen Thema sind, in denen sie ebenfalls Beschäftigte vertreten. Nun will Verdi mit den Wohlfahrtsverbänden beratschlagen, wie sie künftig gemeinsam vorgehen können. Und natürlich werden Gewerkschaften in Tarifverhandlungen und mit Streiks für bessere Arbeitsbedingungen im Sozialsektor kämpfen.

»Ein Treppenwitz«

Was Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbände eint, ist die Kritik an den Sozialkürzungen und den ohnehin schon knappen Mitteln. Denn die Politik entscheidet nicht nur maßgeblich darüber, welche Sozialleistungen angeboten werden, sondern auch, wie die Beschäftigten vergütet werden. Christian Woltering, Geschäftsführer des Paritätischen NRW, nennt ein Beispiel: Bei der Berufsintegration von Jugendlichen und Langzeitarbeitslosen könnten die Träger keine Tariflöhne zahlen, weil der Bund sie nicht refinanziert – für Woltering ein »Treppenwitz« angesichts eines sozialdemokratischen Arbeitsministers.

Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften sind sich auch einig in ihrer Kritik an der Schuldenbremse. In einer gemeinsamen Erklärung forderten fünf der sechs Verbände und Verdi diese Woche »mindestens eine zeitlich befristete Aussetzung der Schuldenbremse«. Solange das Dogma der Schwarzen Null gelte, »wird immer zuerst im sozialen Bereich gespart«, sagt Woltering dem »nd«.

Einen Zusammenhang zu den Militärausgaben stellt explizit Verdi in NRW her. Der Verteidigungshaushalt wachse enorm, gleichzeitig sehe sich die Politik nicht in der Lage, den Sozialstaat zu finanzieren, kritisiert Susanne Hille, die bei Verdi NRW unter anderem für soziale Dienste verantwortlich ist. »Hier ist eine Richtung erkennbar – da gruselt es einen«, sagte Hille dem »nd«.

Und wenn das Dach kaputt ist?

Auf Bundesebene gibt es inzwischen viele Erklärungen gegen Sozialkürzungen. So appellierten Anfang November etliche Organisationen in einem gemeinsamen Brief an Abgeordnete, die Sparpolitik der Bundesregierung zu stoppen. Nötig sei mehr Geld für die soziale Infrastruktur und den Klimaschutz. Zu den Unterzeichnern gehören AWO und Sozialverband Deutschland, DGB und Mieterbund, BUND und Bundesjugendring.

Es gibt also breite Bündnisse gegen die Sparpolitik, und die Wohlfahrtsverbände treten gemeinsam auf. Gerade auf Bundesebene gab es bisher indes keine Massenproteste. Der gesamten progressiven Linken falle es derzeit schwer, Widerstand gegen Sozialkürzungen zu mobilisieren, heißt es beim Institut Solidarische Moderne, das progressiven Akteuren eine Plattform bietet, um sich auszutauschen und zu vernetzen. Ein Grund sei, dass SPD und Grüne, die Aktionen für sozialen und ökologischen Fortschritt unterstützen könnten, in der Ampel-Regierung eingebunden seien. Dies wirke zusätzlich »mobilisierungshemmend«.

Dabei findet der Sozialabbau nach einer Umfrage der Wohlfahrtsverbände schon jetzt statt. Demnach mussten bereits 40 Prozent der befragten Organisationen und Einrichtungen Angebote oder Leistungen einschränken oder einstellen – beispielsweise bei der Obdachlosenhilfe und der Altenbetreuung, der Suchtprävention und der Schuldnerberatung. Auch an Kitas und bei der Ganztagsbetreuung gibt es Einschränkungen.

Die Pläne der Bundesregierung

Im Haushaltsentwurf der Bundesregierung sind für das kommende Jahr etliche Sozialkürzungen vorgesehen, um die Schuldenbremse einzuhalten. Am 16. November ist die Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses, wo die Entscheidung fallen dürfte, ob das Parlament den Einschnitten zustimmt. Hier sind einige Beispiele, was die SPD/Grüne/FDP-Regierung plant:

Freiwilligendienste: Die Mittel sollen um rund 24 Prozent auf 250 Millionen Euro gekürzt werden. Die Folge laut Paritätischem: 25 000 bis 30 000 Plätze für junge Menschen würden wegfallen. Freiwillige in Pflegeeinrichtungen organisieren zum Beispiel Kulturnachmittag und Ausflüge für alte Menschen, erläutert AWO-Vorstandsreferent Lukas Hochscheidt.

Migrationsberatung: Dafür sollen nur noch 57 Millionen Euro bereitgestellt werden, rund 30 Prozent weniger als in diesem Jahr. In der Migrationsberatung helfen Wohlfahrtsverbände Geflüchteten und Migranten beispielsweise dabei, einen Sprachkurs zu finden, einen Kita- oder Schulplatz oder einen Job. Gekürzt werden sollen auch Mittel für psychosoziale Hilfe für geflüchtete Menschen, die etwa durch Krieg oder Verfolgung traumatisiert sind. Dafür sind rund zehn Millionen Euro (etwa 60 Prozent) weniger vorgesehen. Psychotherapien müssten dann abgebrochen werden, dies erhöhe die Selbst- oder Fremdgefährdung, so die Diakonie.

Hilfen für Arbeitslose: Jobcenter sollen 200 Millionen weniger für die Eingliederung von Erwerbslosen erhalten. Finanziert werden damit beispielsweise Fortbildungen und Ausbildungsprojekte für Jugendliche. Auch bei den Personal- und Sachkosten soll gespart werden. Weil hier das Geld oft schon jetzt nicht reicht, dürfte vielerorts das Integrationsbudget noch stärker schrumpfen.

Altenpflege: Der Bundeszuschuss an die gesetzliche Pflegeversicherung soll um eine Milliarde Euro auf Null gekürzt werden. Dadurch müssten mehr Leistungen über die Pflegeversicherung finanziert werden, so die Diakonie. Eine nachhaltige Pflegefinanzierung werde weiter erschwert. Damit riskiere die Politik, dass Pflegekräfte ihren Job kündigen und pflegende Angehörige erschöpft aufgeben müssen.

Extremismus-Prävention: Das Programm Respekt Coaches leistet Extremismus-Prävention an Schulen und klärt über demokratiefeindliche Rhetoriken auf. Dort werde auch über den Nahen Osten gesprochen, so Hochscheidt. Das Programm soll nach seinen Worten gestrichen werden. rt

Die Probleme sind den Verbänden zufolge oft ähnlich: Die Kosten sind wegen der hohen Inflation stark gestiegen. Hinzu kommen höhere Löhne. Doch Bund, Länder und Kommunen refinanzieren die höheren Ausgaben nicht oder erst Monate später. Die Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände müssen in Vorleistung gehen, was schwierig ist, weil sie als gemeinnützige Organisationen nur begrenzt Rücklagen bilden dürfen, die überdies eigentlich für Investitionen gedacht sind. Doch teils müssen sie für die laufenden Kosten verwendet werden. »Wenn dann das Dach kaputt ist, regnet es den Rest des Jahres rein«, sagt Woltering.

Erste Einrichtungen im Sozialsektor mussten bereits Insolvenz anmelden, etwa die AWO Ostwestfalen-Lippe, die 120 Kitas und neun Seniorenzentren betreibt sowie weitere Hilfen wie Betreuungsdienste an Schulen und berufliche Qualifizierungsmaßnahmen anbietet. Für Schlagzeilen sorgten in den vergangenen Monaten Insolvenzen von großen privaten Pflegeunternehmen. Insgesamt ist laut Statistischem Bundesamt die Zahl der Insolvenzen in diesem Jahr im Sozialsektor gestiegen. Nun plant die Ampel-Regierung weitere Kürzungen (siehe Infobox).

Und was wäre eine angemessene Finanzierung von sozialen Dienstleistungen? Bund, Länder und Kommunen müssten in jedem Fall Tariflöhne refinanzieren, sagt Woltering. Wenn überdies die Zuschüsse zeitnah an den Preisanstieg angepasst würden, hätten die Träger mehr Sicherheit.

Ob es zu den geplanten Einschnitten kommt, um die Schuldenbremse einzuhalten, entscheidet nicht die Bundesregierung, sondern das Parlament. Am 16. November ist die sogenannte Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses. Es wird erwartet, dass dort die Entscheidung fällt.

Selbst wenn der Bundestag die Kürzungen stoppt, bleibt die Frage, wie ein Ausbau des Sozialsektors finanziert werden soll. An Kitas und in der Altenpflege fehlt Personal. Der Bundestag hat beschlossen, dass ab 2026 schrittweise ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter eingeführt wird. Dafür ist ebenfalls Geld und Personal nötig.

Die höheren Militärausgaben werden 2024 großteils an der Schuldenbremse vorbei aus dem Sondervermögen Bundeswehr finanziert, das in ein paar Jahren aufgebraucht ist. Ein Sondervermögen Soziales ist nicht in Sicht. Es bleibt viel zu tun für Sozialbündnisse.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.