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Wo sind die Arbeiter geblieben?
Disparater als gedacht: Die Ausstellung »Bitterfelder Wege« in der Musikgalerie an der Goitzsche in Bitterfeld
Die DDR-Kunst der 50er Jahre pendelte zwischen Proletkult und bürgerlich-repräsentativer Nationalkultur. Man gab sich konservativ in der Abwehr moderner Kunst, die unter das Verdikt des »Formalismus« fiel, und gleichzeitig klassenkämpferisch im Sinne von Friedrichs Wolfs »Kunst ist Waffe«. Die Musikgalerie an der Goitzsche in Bitterfeld zeigt nun – vor allem aus dem eigenen Fundus – Gemälde, die dem Bitterfelder Weg, den Heiner Müller als bloße »Parodie, Domestizierung statt Klassenemanzipation« vom Tisch gewischt hatte, etwas von seiner Würde zurückgeben. Bloße Produktionskunst war es jedenfalls nicht.
Die Arbeiter als göttergleiche Heroen der Produktionsschlacht – auch das ist nur die halbe Wahrheit. Vor allem zwischen der ersten Bitterfelder Konferenz 1959 und der zweiten 1964 liegen Welten. Während man 1959 tatsächlich noch sehr naturalistisch die Helden der Arbeit feierte, ist man Anfang der 60er Jahre plötzlich im ganz normalen Alltag angelangt. Brigitte Reimanns Buch »Ankunft im Alltag« gab dann einer ganzen Entwicklungsphase ihren Namen.
Ein dafür typisches Gemälde ist Bernhard Frankes »Camping« von 1963, das etwas hochtrabend als Triptychon daherkommt. Es hing in der Werkskantine des Chemiekombinats. Da ging es um die Träume aller Werktätigen - und die hatten weniger mit sozialistischem Wettbewerb, Subotnik oder Planübererfüllung zu tun als ganz schlicht mit Feierabend, Wochenende und Urlaub. Einmal nichts tun, ausruhen und aufs Meer blicken! Darum heißt das Bild auch »Camping« – der Arbeiter als Freizeitaktivist.
Ganz anders sah es noch vier Jahre zuvor aus. Da waren andere Töne zu hören und andere Bilder zu sehen. Die »Höhen der Kultur zu erstürmen«, sei die Aufgabe des Bitterfeldes Weges, so Alfred Kurella pathetisch auf der ersten Konferenz 1959 im neu erbauten Bitterfelder Kulturpalast. Kurella fungierte als »Großinquisitor« der DDR-Kulturpolitik, so der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, damals noch Professor in Leipzig. Damit ist der Januskopf des Bitterfelder Weges, aus einer Autorenkonferenz des Mitteldeutschen Verlags erwachsend, angedeutet. Denn nach der zaghaften Entstalinisierung nach dem XX. Parteitag der KPDSU 1956 folgte schon zwei Jahre später – nach dem Aufstand in Ungarn 1956 – wieder eine Restalinisierung. Künstler und Intellektuelle sollten wieder an der kürzeren Leine der Partei laufen.
Heiner Müller hat es in »Krieg ohne Schlacht« sarkastisch so formuliert: »Die Höhen der Kultur mussten planiert werden, damit sie erstürmt werden konnten.« So lässt sich beides, Aufbruch und Ideologisierung, anhand des Bitterfelder Weges zeigen. »Greif zur Feder, Kumpel!«, dieser Slogan stammt von Werner Bräunig, dessen Produktionsroman »Rummelplatz« dann auf dem berüchtigten »Kahlschlagplenum« des ZK der SED im Dezember 1965 verboten wurde, weil er zu realistisch war und die Arbeiter der Großbaustellen als rabiate Meute und nicht als brave Planerfüllungsstreber zeigte. Zwischen 1963 und 1965 war eine selbstbewusste Kunst entstanden, die wahrhaft neue Wege ging, so dass man sie wieder ideologisch zu zügeln versuchte.
Doch war dies eine Folge des Bitterfeldes Weges, der die »Einheit von Kunst und Leben« herbeiführen sollte? Nein, die eigentliche Zeitenwende in der Politik der SED war der sechste Parteitag 1963. Dieser gab das entscheidende Reformsignal, ermöglichte eine neue Kunst, verbunden mit einer neuen Wirtschaftspolitik (Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung, kurz: NÖSPL).
Für Kurella jedoch, Hauptfeind des sogenannten »Formalismus«, war Ende der 50er Jahre der künstlerische Ausdruck des neuen Bitterfelder Weges eine Art volkstümlich dargebrachter Klassizismus. Jener Naturalismus, der zu dieser Zeit auch die sowjetische Kunst beherrschte. War also der Bitterfelder Weg eher eine Bedrohung der neuen Freiheit von Kunst? Viele Künstler fassten es so auf, auch wenn er ihnen Brot gab, denn es wurden massenhaft Zirkelleiter gebraucht, etwa für die »Zirkel schreibender Arbeiter«, in denen jedoch, so wird kolportiert, häufiger Sekretärinnen als Arbeiter zu finden waren.
Die Person Alfred Kurellas, um die auch diese Ausstellung kreist, weil er sich zum Hauptredner der ersten Bitterfelder Konferenz aufschwang, symbolisierte die Zwiespältigkeit der SED-Kulturpolitik. Kurella hatte 1919 Lenin in Moskau getroffen, begleitete fortan die sowjetische Avantgardekunst ebenso hingebungsvoll wie in den 30er Jahren deren Zerstörung durch den Stalinismus. Unter den Exilanten in Moskau war er als Mann des sowjetischen Geheimdienstes berüchtigt, manche hielten ihn für einen Denunzianten.
Als Ulbricht ihn, der sowjetischer Staatsbürger geworden war, 1949 in die DDR holen wollte, versuchte vor allem Johannes R. Becher, das zu verhindern. Der Scharfmacher sollte in Stalins Reich bleiben! Er kam dann, nach der »Quarantänezeit« für vormalige Geheimdienstler von fünf Jahren, 1954 doch in die DDR, wurde der wichtigste Mann Ulbrichts für die Kultur und machte sich bei Künstlern und Literaten schnell verhasst.
Kurella also als Mann für den Aufbruch in der DDR-Kultur? Klingt paradox und das Stöhnen vieler Künstler über den ihnen aufgezwungenen »bitteren Feldweg« war nicht abwegig. Denn mit dem Bitterfelder Weg versuchte die SED, ihre Themen durchzusetzen – und die Künstler versuchten wiederum, diese auf ihre Weise umzuinterpretieren. So Erik Neutsch mit »Spur der Steine«, von dem jeder Teilnehmer der zweiten Bitterfelder Konferenz 1964 ein Leseexemplar erhielt (und Neutsch bekam den Nationalpreis, wenn auch nur dritter Klasse). Neutsch stellt die Frage, wie denn der Arbeiter im Arbeiterstaat an die Macht kommen soll. Auf dem Umweg über den Parteisekretär oder ganz direkt als Souverän der Großbaustelle? Balla, die Hauptfigur, ist vor allem eines: ein Anarchist, der vor Kraft schier birst. Eine Provokation für die Erziehungsdiktatur DDR!
Die Musikgalerie zeigt nun sehr disparate Werke rund um den Bitterfelder Weg, die den Betrachter erstaunen lassen. Da ist etwa Heinrich Witz mit »Der neue Anfang« von 1959. Anzug- und Schlipsträger in einer abendlichen Gesellschaft. Auch das ist wohl ein proletarischer Traum: der vom Aufstieg ins Bürgertum. Zwei Männer reichen sich über den Tisch hinweg die Hände: Hier wird etwas plump das SED-Parteiabzeichen in Szene gesetzt. Im Vordergrund sitzt eine junge Frau im eleganten Abendkleid, neben ihr ein Sektkübel mit Flasche darin. Auf dem weißgedeckten Tisch eine weitere Sektflasche und mehrere Gläser. Was ist die Botschaft? Uns geht es gut und bald wird es uns noch besser gehen! Im Grunde ist dies die Welt nicht der Arbeiter, sondern der Arbeiterfunktionäre.
Interessant die Porträts von Frauen in der Produktion, vor allem Norbert Wagenbretts »Brigade II« von 1989. Ein eindrucksvoller Rückblick auf die »arbeiterliche Gesellschaft« der DDR und den auf selbstverständliche Weise selbstbewussten Platz, den Frauen in ihr einnahmen. Hier erblicken wir eine ältere Arbeiterin im blauen Kittel, die dem Betrachter ernst und konzentriert entgegenblickt.
Der Bitterfelder Maler Walter Dötsch hat eine Art gemaltes Gedächtnis Bitterfelds geschaffen, des Chemiekombinats mitsamt Stadt. Die Brigade Nicolai Mamai etwa aus dem Aluminumwerk sollte in den 50er Jahren ein Motor der Planübererfüllungsbewegung werden. Politik der Produktionsaufgebote nannte man das, bei der man auf moralische Vorbildwirkung statt auf materielle Anreize setzte. Das Tagebuch der Brigade liegt in einer Vitrine aus. Auch dazu wurden Schriftsteller gebraucht, um solche Tagebücher zu schreiben. Denn nicht nur die Arbeiter sollten die Kunst kennenlernen, sondern auch die Künstler und Literaten die Welt der Arbeiter. Das war dann nicht nur eine Art Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für schlecht verdienende Schriftsteller, sondern stand auch im Widerspruch zum Prinzip »Bewährung in der Produktion«, wo Arbeit als Strafe für Studenten, Künstler und Intellektuelle oft wegen »falschen Bewusstseins« verhängt wurde.
Diese Komplexität des Bitterfelder Weges, seine innere Widersprüchlichkeit zeigt sich in zwei Bildern von Walter Dötsch. Zweimal malt er die Brigade Mamai. Das erste Mal 1961 als Aufbruchsbild mit jugendlichen Gestalten und entschlossenen Gesten bei der Aluminiumschmelze. Das zweite Mal 1985 mit alt gewordenen Arbeitern, verhärmten bärtigen Gestalten, die die Bürde dieser schweren Arbeit still tragen. Man könnte es mit »Verlorene Illusionen« überschreiben, ein Bild vom Ende. Aber liegt nicht auch eine stille Würde im Erdulden des Stillstands? Wir sind alle keine Helden, aber tragen mehr Lasten, als man uns zutraute.
Noch bis zum 29. September 2024 in der Musikgalerie an der Goitzsche in Bitterfeld. Die Begleitpublikation »Aufbau – Arbeit – Sehnsucht. Bildende Kunst, Literatur und Musik auf dem Bitterfelder Weg« ist im Mitteldeutschen Verlag erschienen und kostet 16 Euro.
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