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  • Geschichte der Arbeiter*innenbewegung

Nationalistische Irrwege

In der Geschichte der kommunistischen Bewegungen haben sich bislang zumeist die Autoritären durchgesetzt. Ein Beispiel: die Ruhrbesetzung 1923

  • Felix Klopotek
  • Lesedauer: 7 Min.
Eine Darstellung der französischen Besetzung des Ruhrgebiets in der konservativen Zeitschrift Le Petit Journal (Paris, 1923)
Eine Darstellung der französischen Besetzung des Ruhrgebiets in der konservativen Zeitschrift Le Petit Journal (Paris, 1923)

Was bleibt von den vielen Veranstaltungen, Gedenkstunden, Büchern, Symposien und Ausstellungen, die im fast beendeten Jahr 2023 an 1923 erinnern? Aus linker Sicht mindestens ein zwiespältiger Eindruck. Intellektuell-philosophisch war jenes Jahr doch ganz ergiebig: Karl Korsch, Georg Lukács und Ernst Bloch veröffentlichten bald schon berühmt gewordene Bücher, die eine undogmatische Neubegründung des Marxismus einleiteten; zu Pfingsten fand die »Marxistische Arbeitswoche« statt, der Startschuss für das Frankfurter Institut für Sozialforschung und die spätere Kritische Theorie.

Wer hat uns verraten?

Im schroffen Kontrast dazu stehen verheerende politische Niederlagen der Linken. Die Arbeiterregierungen in Sachsen und Thüringen wurden von der SPD verraten und von der Reichswehr abgeräumt. Der »Deutsche Oktober«, ein von der KPD und der Kommunistischen Internationale (Komintern) mit großem Aufwand geplanter Revolutionsversuch, wurde gar nicht erst ausgerufen, und der Hamburger Aufstand der Kommunisten taugt noch nicht mal als Tragödie, so dilettantisch war er geplant und so umfassend scheiterte er.

Als das Jahr 1923 zu Ende ging, war die KPD vorübergehend verboten, heillos zerstritten und hatte ihren Nimbus als Massenpartei eingebüßt. Die Partei hatte zwei Drittel ihrer Mitglieder verloren, stattdessen war nun der Faschismus zur Massenbewegung geworden. Der intellektuellen Hausse der Marxist*innen und Kommunist*innen in diesem Jahr steht der Verlust ihrer revolutionären Kraft gegenüber. Mehr noch: Zwischen beidem scheint es keinerlei Verbindung zu geben, die Theorie erhellt nicht die Praxis. Die Bücher von Korsch, »Marxismus und Philosophie« und Lukács, »Geschichte und Klassenbewusstsein«, wirken zu zeitlos, um konkrete Handlungshinweise zu geben – auch damals schon. Und da sich von der »Marxistischen Arbeitswoche« keine Protokolle erhalten haben, wissen wir heute, offen gesagt, nichts darüber, ob von ihr irgendwelche Impulse für eine kommunistische Strategie ausgegangen sind.

Tatsächlich aber gab es eine kommunistische Debatte, die in revolutionärer Absicht Theorie und Praxis zu verbinden suchte. Geführt wurde sie in der »Internationale«, der Theorie- und Debattenzeitschrift der KPD, und sie bezog sich auf die für Deutschland, genauer gesagt, für das Proletariat in Deutschland, dramatischste Lage im Jahr 1923: die Ruhrbesetzung.

Aufruf zum Klassenkompromiss

Zur Erinnerung: Das Ruhrgebiet war am 11. Januar 1923 von französischen und belgischen Truppen besetzt worden, weil Deutschland Reparationsforderungen im Ergebnis des Ersten Weltkrieges nicht nachgekommen war. Franzosen und Belgier wollten ausstehende Holz- und Kohlelieferungen eintreiben, bald schon befanden sich 100 000 Soldaten zwischen Duisburg und Dortmund.

Am 13. Januar rief die bürgerliche Regierung, unterstützt von der Sozialdemokratie, zum passiven Widerstand gegen die Besatzer auf: keine Kooperation auf behördlicher Ebene, keine Herausgabe von Rohstoffen und Gütern. Arbeiterschaft und Unternehmer traten gemeinsam in den Streik, die Regierung in Berlin übernahm die »Streikkasse«. Diese verordnete Verbrüderung der Klassen löste einen nationalen Taumel aus, der augenblicklich mit rassistischem und antisemitischem Furor einherging. Jüdische Kaufleute wurden verdächtigt, mit den Besatzern zu kungeln, die schwarzen und maghrebinischen Soldaten in der französischen Armee wurden als sexlüsterne Monster dargestellt.

Gleichzeitig war das Ruhrgebiet die Hochburg kommunistischer und anarchistischer Arbeiter*innen. Die Gewerkschaften wurden deshalb von Kapital und Politik angehalten, »ihre« Basis zu kontrollieren, was konkret bedeutete: keine Lohnforderungen, keine eigenständigen Demonstrationen von Arbeiter*innen, keine Agitation gegen die sogenannten Ruhrbarone (die von Anfang an und hinter den Kulissen den Ausgleich mit der lothringischen Stahlindustrie suchten, die dringend auf die Kohle aus dem Ruhrgebiet angewiesen war), keine Verbrüderung mit den Soldaten, die in ihrer Heimat selber zum Proletariat gehörten. Die Gewerkschaften nahmen diese Rolle willfährig an – ohne allerdings die Arbeiterschaft auch wirklich kontrollieren zu können. Immer wieder kam es zu klassenkämpferischen Unruhen.

In dieser unübersichtlichen Gemengelage mussten sich die kommunistischen Kader orientieren. Der Kurs, den die Parteiführung vorschlug, war – höflich gesagt – kompliziert und verwirrend. Zunächst billigte sie der Bourgeoisie an Rhein und Ruhr eine »objektiv revolutionäre Rolle« zu, einte sie doch das Volk gegen ausbeuterische und unterdrückende Besatzer. Andererseits war dieselbe Bourgeoisie die treibende Kraft des deutschen Imperialismus, der 1918 zwar einen Krieg verloren hatte, aber nicht seine Ambitionen. Das Proletariat sollte also, so die KPD-Richtlinie, einen Zwei-Fronten-Krieg führen: gegen die Franzosen und gegen die eigene Regierung.

»Sommer« wiederspricht intern

Diese Position provozierte in der »Internationale« einen geradezu prophetischen Widerspruch, prononciert vorgetragen von einem Genossen, der sich das Pseudonym Sommer gegeben hatte: Einziges Ziel des deutschen Proletariats sei die Niederwerfung der eigenen Bourgeoisie. Jegliche politische Aufwertung des einheimischen Kapitals bedeute nur eine Stärkung des deutschen Imperialismus, der sofort zum nächsten Weltkrieg rüste, wenn sich die Gelegenheit biete – und eine Niederlage der Franzosen im Ruhrkampf wäre ebendiese Gelegenheit.

Die Einigung des Volkes könne nur auf dem Boden des Nationalismus stattfinden, was wiederum das Proletariat an die faschistische Gesinnung des Kleinbürgertums schmiede und es um seine eigenen Klassenziele bringe. Die Parole Liebknechts – der Feind steht im eigenen Land – gelte 1923 noch genauso wie 1914. Auch die Agitation unter französischen Soldaten, die als Klassenbrüder angesprochen werden sollten, werde schlicht unmöglich, wenn man das Ansinnen der Bourgeoisie teile, dass Franzosen und Belgier verschwinden müssten.

Trotz seiner richtigen Analyse wurde Sommer innerhalb der KPD abgewatscht. Diese Rolle übernahm der Parteitheoretiker August Thalheimer, der sich darüber lustig machte, dass Sommer eine baldige Wiederaufrüstung Deutschlands befürchtete – nicht nur aus heutiger Sicht eine unangemessene Häme.

Auch sonst konnte er keines der Argumente Sommers entkräften, beharrte aber arrogant auf der Propagierung des Zwei-Fronten-Krieges, der der deutschen Bourgeoisie aus taktischen Erwägungen die Hegemonie über den nationalen Widerstand zubilligte. Als die französische Besatzungsmacht den faschistischen Saboteur Albert Leo Schlageter hinrichtete, widmete ihm der führende Komintern-Funktionär Karl Radek eine einfühlsame Rede und demonstrierte: Der Nationalismus war im Herzen der kommunistischen Bewegung angekommen.

Das Pseudonym Sommer lässt sich nach einigem Suchen entschlüsseln. Dahinter verbarg sich der Deutsch-Tscheche Josef Winternitz (1896–1952), ein promovierter Philosoph, Bekannter von Albert Einstein und Vertreter des »intransigenten Internationalismus« – ein unbedingter Internationalismus, dessen Hort die deutsche Sektion der für die Komintern damals wichtigen Tschechischen Kommunistischen Partei (KPTsch) war, leidenschaftlich vertreten von deren Vorsitzendem Alois Neurath. Dieser Internationalismus hatte seine Wurzeln in der radikalen nordböhmischen Arbeiterbewegung von Reichenberg, heute Liberec. Ihr erster Theoretiker schon vor dem Ersten Weltkrieg war Josef Strasser, der sich damit in die Reihen der linken Opposition von Rosa Luxemburg bis Anton Pannekoek einreihte.

In seinen Interventionen verband Sommer/Winternitz auf virtuose Weise die abstrakten Grundsätze dieses Internationalismus mit den konkreten Kampfzielen des Proletariats. Die richtige Theorie auf eine im Werden begriffene Praxis zu beziehen, ist hier exemplarisch gelungen. Komintern-Chef Grigori Sinowjew bezeichnete diesen Internationalismus übrigens als »absoluten Nihilismus«. Wer so laut aufjault, fühlt sich getroffen. Die Ereignisse des Jahres 1923 überholten diese Debatte allerdings: Im Herbst einigten sich die Regierungen in Berlin und Paris auf einen Modus zur Fortzahlung der Reparationen, im Sommer 1925 verließ der letzte französische Soldat das Ruhrgebiet.

Was bleibt?

Spätestens mit der Schlageter-Rede hatte die KPD ihren eigenen theoretischen Kompass verloren; 1925 gänzlich durch die Direktiven Moskaus ersetzt, denen fortan sklavisch zu folgen war. Und auch Winternitz folgte, schloss sich Ernst Thälmann an und bekleidete eine Zeit lang hohe Parteiämter. Er überlebte den Faschismus im englischen Exil, konnte danach als misstrauisch beäugter West-Emigrant in der jungen DDR nicht dauerhaft Fuß fassen – und starb im erneuten englischen Exil. Die deutsche Sektion in der KPTsch wurde nach 1923 von den Linken gesäubert.

Winternitz’ Texte zu den Ereignissen 1923, die seines deutsch-tschechischen Genossen Alois Neurath und natürlich auch der »Urtext« Josef Strassers, »Der Arbeiter und die Nation« (1912), bleiben lesenswert. Sie zeigen, dass es den Arbeiter*innen nichts einbringt, Bündnisse einzugehen, die sie von ihren Klassenzielen ablenken – und dass der schwierige Internationalismus auch dann die einzige Option bleibt, wenn ein Bündnis mit der nationalen Bourgeoisie und dem Kleinbürgertum »im Augenblick« erfolgversprechender erscheint.

Zum Nachlesen: Die Jahrgänge der »Internationale« sind digital erfasst unter:
www.max-stirner-archiv-leipzig.de/philosophie

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