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Lea Streisand: »Ich verabscheue diesen neoliberalen Diskurs«
Lea Streisand über das Leben mit Behinderung, das Massaker der Hamas und antisemitische Anfeindungen auf der Bühne
Lea, wir beide sind Schulfreunde.
Na ja, nicht ganz. Du bist zehn Jahre älter als ich. Als du 1986 aus der Körperbehindertenschule in Lichtenberg raus bist, wurde ich eingeschult. Ich war aber nur auf der Grundschule dort. Ab der 7. Klasse bin ich aufs Gymnasium in Prenzlauer Berg.
Vor zwölf Jahren oder so hast du mir das Interview noch verweigert …
Ach, echt? Weiß ich gar nicht mehr.
Damals hatte ich dich zu Matthias Vernaldi und mir ins Studio eingeladen, bei Pi-Radio, einem freien Sender in Berlin. Unsere Sendung hieß »Krüppel ausm Sack«.
Kann sein, dass mich der Begriff »Krüppel« abgestoßen hat. Ich weiß, dass die »Krüppel-Bewegung« eine Emanzipationsbewegung war. Aber erstens fällt es mir schwer, mir Beschimpfungen affirmativ anzueignen, dafür ist mir Sprache zu mächtig. Und außerdem war ich damals, glaube ich, auch einfach noch nicht so weit.
Lea Streisand ist Schriftstellerin und bekannt für ihre Hörkolumne auf Radio Eins des RBB. Die Erfahrung von körperlicher Schwäche verknüpfte sie bereits in ihrem autofiktionalen Debütroman »Im Sommer wieder Fahrrad« (2016) mit ihrer jüdischen Familiengeschichte.
Wie gehst du mit deiner Behinderung um?
Ich habe meine Gehbehinderung lange versteckt. Vor 20 Jahren habe ich mit Lesebühnen angefangen. Ich kann sogar noch früher ansetzen. Meine Großmutter, Ellis Heiden, über die ich meinen ersten Roman geschrieben habe, Schauspielerin, großartige Geschichtenerzählerin. Die hatte so eine Stärke, so eine Selbstverständlichkeit im Auftreten. Total angstfrei. Hat meinen jüdischen Großvater aus dem Arbeitslager rausgeschummelt. Hat mit Brecht gearbeitet und mit Gründgens. Und sie meinte über mich: »Normalerweise hätte ich ja gesagt, das Kind muss Schauspielerin werden. Aber mit dem Bumsbeen, das geht ja nicht …« Das tat damals weh, aber ich war zu jung, um diese Zuschreibung zu benennen, geschweige denn, mich dagegen zu wehren.
Und so wurdest du Schriftstellerin.
Ich habe mir gesagt: Lesebühne geht. Da muss ich nur stehen und vorlesen. Ich sehe gut aus, habe eine gute Stimme, kann sprechen, erzählen und mit Sprache umgehen.
Also, ich sage von mir nicht, dass ich behindert bin. Mit meinen kranken Knochen habe ich ein ästhetisches Problem.
Auch dafür wird man ausgegrenzt, oder? Du willst dich nicht in die Rolle des Benachteiligten einfügen. Ich verstehe das. Es fühlt sich anmaßend an. Und es ist nicht schön, sich bewusst zu machen, dass man kein individuell lösbares, sondern ein gesellschaftliches Problem hat. Man fühlt sich automatisch irgendwie ohnmächtig. Ein Bekannter von mir, Familienvater, Vollzeitjob, erklärte mir, er wolle von seiner Behinderung nicht profitieren. Rollt im Rollstuhl neben mir her und sagt: »Wir wollen doch einfach nur mitlaufen.« Ja. Können wir aber nicht. Und das ist nicht unsere Schuld.
Aber jetzt kommst du klar?
Ich habe lange gebraucht, um für mich an den Punkt zu kommen: Es gehört eben dazu. Ich kann’s nicht ändern. Ich muss es nicht lieben, aber es ist da. Und ich verabscheue diesen ganzen neoliberalen Diskurs, dieses Romantisierende, Verklärende, von wegen: Du musst dich selbst lieben. – Nein, muss ich nicht. Es reicht, wenn ich mich okay finde.
Und wie hast du das geschafft?
Der Diskurs hat sich verändert. Vor 40 Jahren waren Menschen mit Behinderung bemitleidenswerte Opfer, Objekte der Fürsorge, zwar keine verabscheuungswürdigen »Krüppel« mehr, eher Kuscheltiere. Vor 20 Jahren gab es den Paradigmenwechsel zum Superhelden. Menschen mit Behinderung waren plötzlich »anders begabt«, »konnten alles« und es gab das erste Mal so eine Idee von Teilhabe. Aber bitte ohne zu jammern. Mir hat vor allem Twitter geholfen. Was mir auf der Seele brennt, erzähle ich im Internet. Und auf einmal antworteten mir Leute: »Ey, Lea, das ist Ableismus, was du da erlebst!« Und ich: »Was, ihr kennt das? Ich bin gar nicht die Einzige, der Nichtbehinderte vorhalten: ›Hör auf zu jammern! So behindert bist du doch gar nicht …‹?«
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In letzter Zeit berichtest du noch von anderen Diskriminierungen.
Seit dem 7. Oktober, dem Hamas-Massaker in Israel, erlebe ich in meinem Umfeld das Umsichgreifen einer antisemitischen Stimmung, die mich wirklich kalt erwischt hat. Vor zwei Wochen habe ich auf der Bühne das erste Mal richtige Anfeindungen erlebt, dass Leute »Buh!« gerufen haben. Ich erzähle ja immer Alltagsgeschichten über strukturelle Diskriminierungen. Diesmal hatte ich einen Text über Antisemitismus, in dem ich eigentlich nur geschichtswissenschaftlich belegte Fakten wiedergegeben habe. Der Antisemitismus ist eine Ursprungserzählung unserer Zivilisation. Richtig laut wurde es bei der Aussage: »Darauf, dass Juden scheiße sind, konnten sich eigentlich immer alle irgendwie einigen. Ach nee, Entschuldigung, heute sagt man nicht mehr ›Jude‹, heute sagt man ›Israel‹.«
Und?
Da wurde »Schwachsinn!« gerufen. Ich war total schockiert. Und als ich das meiner Mutter erzählte, meinte sie: »Ja, schlimm. Aber wenn du dich so exponierst.« Weil sie schon wusste, dass man dafür gehasst wird. Das hat mir irgendwie meine ganze Familiengeschichte erklärt. Das war sehr erschütternd.
Welche Geschichte meinst du konkret?
Ich habe einen jüdischen Urgroßvater. Der war Antiquar, spezialisiert auf »wissenschaftlichen Sozialismus«, so jedenfalls hat er es genannt. Er hat sich immer als Deutscher gefühlt und dennoch wurde sein Geschäft im November 1938 verwüstet. Hugo Streisand hat die Nazizeit hier in Berlin überlebt, weil er durch die Ehe mit meiner Urgroßmutter geschützt war. Wir nannten sie Mümi, sie war Mitglied der Bekennenden Kirche, hat sich nicht einschüchtern lassen. Sie gehörte auch zu den Protestierenden in der Rosenstraße 1943, wo nichtjüdische Angehörige ihre bereits zur Deportation vorgesehenen jüdischen Verwandten wieder freibekommen haben. Aber Hugo musste miterleben, wie seine Schwester aus seiner Wohnung abgeholt und deportiert wurde. Sie wurde 1942 im KZ Chelmno ermordet. Seine andere Schwester ist in Theresienstadt an Entkräftung gestorben, ganz tragisch: unmittelbar nach der Befreiung. Soweit ich das bisher recherchieren konnte, wurden alle nach NS-Definition jüdischen Verwandten, die Deutschland nicht verließen, ermordet.
Das wirkt sich jetzt auf dein Leben aus?
Das Irre für mich ist eben, was seit dem 7. Oktober alles aufgebrochen ist; was für Sprüche die Leute plötzlich gebracht haben. Und auch wie dieser israelbezogene Antisemitismus wieder Konsens ist. Ich staune über diese Verdrängungsleistung. Hierzulande ist es ja so, dass Adolf Hitler kam und mit ihm der Antisemitismus. Dann war Hitler tot und der Antisemitismus vorbei. Inzwischen habe ich meine Kontakte zur Außenwelt sehr beschränkt.
Du hast was?
Seit 15 Jahren bin ich in psychotherapeutischer Behandlung. Ich bin schon mit vier Jahren operiert worden und hab einen Zacken weg, was Krankenhäuser angeht und geschlossene Räume. Hinzu kamen noch die Panikattacken, wenn ich jüdische Symbole gesehen habe oder Bilder von Auschwitz. Also nicht irgendwelche Hollywood-Filme, sondern authentische Bilder. Und das Irre war, dass diese Symbole des Judentums in meinem Kopf gleichgesetzt waren mit den Zeugnissen der versuchten Auslöschung des jüdischen Volkes. Jedenfalls habe ich immer geglaubt, ich muss einfach nur mehr Therapie machen. Dann aber zu merken: Das ist nicht in meinem Kopf, das ist wirklich so!
Wie meinst du das?
Wenn Leute, die mich mögen, zu mir sagen: »Das verstehe ich, dass es dir total schlecht geht, aber Israel hätte eben nie gegründet werden dürfen.« Mein ganzes Leben wehre ich mich gegen Zuschreibungen, wie mit deinem Krüppelradio, wo ich gesagt habe: »Bleib mir vom Leib damit!« Und genauso habe ich mich gewehrt, wenn Freunde zu mir »Schalömchen« sagen und »Du, als jüdische Schwester …«. Ich habe immer gedacht, ich bin keine Jüdin, ich habe einfach nur eine Macke. Ich habe einen Knall, was das angeht. Der Holocaust hat meine Familie zu Juden gemacht, aber wir sind keine.
Rabbiner Walter Rothschild sagt: Jude ist, wer jüdische Albträume hat.
(lacht) Ja, dann …
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