»Blutbuch« in Hannover: Mutter-Meer und Geschlechter-Gletscher

Das Schauspiel Hannover blättert Kim de l’Horizons »Blutbuch« auf

  • Andreas Schnell
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Verhältnisse neu einrichten, das ist die Aufgabe.
Die Verhältnisse neu einrichten, das ist die Aufgabe.

Eigentlich ist Theater genau das, was das »Blutbuch« von Kim de l’Horizon braucht. Denn eben als Buch, das sagt de l’Horizon selbst sinngemäß, kann es nie vollständig sein, weil die Welt schon immer komplizierter war als ein Roman. »Meer« zum Beispiel, das ist in diesem im vergangenen Jahr mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Debüt das gängige Wort für »Mutter«. Dem Berner Deutsch entsprechend, das hier nicht nur Muttersprache ist, sondern auch Teil der Verordnung im sozialen Gefüge – und Quell für eine den gesamten Text wenn schon nicht flutende, dann doch durchfließende Metapher.

Das Flüssige ist ohnehin ein essenzieller Aspekt des »Blutbuchs«: »Dieses Schauermärchen von bloß zwei Geschlechtern, von zwei unschmelzbaren Gletschern, die genau das Gegenteil voneinander seien, das erzähle ich nicht weiter«, heißt es einmal. Eine Feindin alles Uneindeutigen ist derweil die Großmutter, die, wenn es neben dem erzählenden Ich eine gibt, die Hauptfigur des Buches ist. Und »die Meer« wurde eine »Eishexe«.

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Auf der Bühne ausgesprochen bekommt »Meer« noch eine weitere Bedeutung: »Meer« klingt mehr oder weniger auch wie »Mär«. Und ließe sich als Hinweis auf herrschende Ideologien verstehen, die Kim de l’Horizon mit dem »Blutbuch« zum Fließen bringen möchte. Nachzuhören im Ballhof Zwei, einer kleinen Außenspielstätte des Schauspiels Hannover. Regisseur und Bühnenbildner Ran Chai Bar-zvi hat dort die deutsche Erstaufführung eingerichtet und mit einem auf den ersten Blick irritierenden Vorspiel versehen: Der Abend beginnt im Ballhof-Café, auf einer kleinen Bühne mit Sessel, die in den ersten 30 Minuten der Inszenierung Schauplatz einer höchst vergnüglichen Drag-Show wird. Das ist alles andere als abwegig: Drag als kulturelle Praxis spielt schließlich lustvoll mit Geschlechterklischees, übertreibt sie derweil maßlos und liquidiert sie damit gleichsam.

Den Schauspielern Fabian Dott und Nils Rovira-Muñoz vom Schauspiel Hannover hat der Regisseur die Berliner Drag-Queen, Choreografin, und Autorin Olympia Bukkakis zur Seite gestellt, die ihren Hannoveraner Kollegen entweder ein ziemlich gründliches Training in Sachen Drag verpasst hat – oder auf einschlägig vorgebildete »Schwestern« traf, wie Bukkakis ihre Kollegen liebevoll nennt. Ziemlich gekonnt performen sie lippensynchron bekanntes Liedgut, dessen Auswahl Bände spricht, darunter Gittes »Ich will alles« und »Ich mach mir die Welt widdewidde wie sie mir gefällt«. Später gibt es dann übrigens auch noch Alexandras »Mein Freund der Baum«.

Solchermaßen eingestimmt und zugleich stimmungsmäßig locker gemacht, wird das Publikum dann ins eigentliche Theater geleitet, wo die Bühnenfassung von Ran Chai Bar-zvi und Michael Letmathe die wesentlichen Stränge des schillernden Werks aufblättert. Die Requisiten stehen allzeit präsent an der Seite, auch dies ein Bild von Verhältnissen, die nicht einfach so da sind, sondern eben buchstäblich eingerichtet und immer wieder reproduziert werden.

Die Bühne selbst ist passend dazu eher eine Leinwand, eine Projektionsfläche – ein weißes Blatt Papier, auf dem die Familiengeschichte, angereichert mit vielerlei Fußnoten und Zeitkolorit (ein guter alter Tageslichtschreiber kommt zum Einsatz) erzählt wird. Alles fließt ein in die Frage nach der eigenen Identität, die – auch das lässt de l’Horizon sich und uns durch den Kopf gehen – bei aller behaupteten fluiden Queerness womöglich ebenfalls nicht einfach nur da ist, sondern ein Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse, geografischer wie sozialer Herkunft, Teil einer Abgrenzung von Eltern und Großeltern ebenso wie von allzu hippen Zeitgenoss*innen.

Das ist auf eine Weise alles natürlich auch mal ein bisschen verwirrend, wenn dann dazu auch noch die Geschichte der einst in den Gärten der höheren Stände vorzufindenden Blutbuche aufgedröselt wird, die wie so viele Statussymbole auch (das dicke Auto zum Beispiel) eine in Sachen Distinktion verheerende Karriere gemacht hat, weil sie irgendwann auch bei Hinz und Kunz im Vorgarten stand. Und dann gibt es auch noch einen Exkurs zu dem gebürtigen Hannoveraner Heinrich Friedrich Wiepking, der in der deutschen Landschaft einen »Ausdruck und eine Kennzeichnung des in ihr lebenden Volkes« erkannte und sowohl im Nationalsozialismus wie in der BRD wohlgelitten war.

Es ist schon alles kompliziert. Was auch bedeutet: Dieses ausufernde »Blutbuch« auf eineinhalb Stunden einzukochen – die halbstündige Drag-Show zu Beginn greift den Stoff noch nicht auf – ist natürlich ein Unterfangen, das dann doch im Widerspruch zu der verästelten Erzählung steht.

Sehenswert ist der Abend dennoch, auch wenn ihm am Ende vielleicht ein wenig die Puste ausgeht. Wo das Buch bisweilen ermüdet, sind hier wesentliche Aspekte und Erzählstränge sichtbar, machen Lust, sich noch einmal in den Text zu vertiefen, der nicht nur formal bemerkenswert ist, sondern vielleicht auch dazu beitragen kann, die Verhältnisse vielleicht nicht zum Tanzen, aber vielleicht doch ein wenig zum Schmelzen zu bringen.

Nächste Vorstellungen: 22.12., 29.12., 12.1., 18.1., 17.2., 23.2.

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