Verdi: Gewerkschaft im Aufwind

Die Dienstleistungsgewerkschaft verzeichnet mehr Eintritte als Austritte – auch dank offensiv geführter Kämpfe

Die Tapetenfabrik Erismann mit ihren rund 180 Beschäftigten liegt am Rande des beschaulichen Städtchens Breisach am Rhein. Eine ungewöhnliche Kulisse für einen Arbeitskampf. Doch genau der hat im vergangenen Jahr stattgefunden: Auf gut zehn Streiktage blicken die Beschäftigten seit November zurück. Sie kämpfen für mehr Lohn, der zuletzt vor sieben Jahren erhöht wurde – vor der Coronakrise und dem russischen Überfall auf die Ukraine, vor der horrenden Inflation und dem damit verbundenen Reallohnverlust.

Die Fabrik steht exemplarisch für viele kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland. Sie trat vor einigen Jahren aus dem Arbeitgeberverband aus und ist damit nicht mehr tarifgebunden – wie über die Hälfte aller Betriebe. Und die Mitgliederzahlen der Gewerkschaft waren über Jahre hinweg schwindend gering. Vor dem aktuellen Arbeitskampf lagen sie sogar unter dem bundesweiten Durchschnitt von knapp 17 Prozent.

Das änderte sich im vergangenen Jahr schlagartig, erzählt Betriebsrätin Anna Uscinowicz im Gespräch mit »nd«. Die Beschäftigten begannen sich zu organisieren. An den ersten Betriebsversammlungen nahm weit über die Hälfte der Belegschaft teil. Und die Verdi-Mitgliedschaftsanträge schossen in die Höhe. Die haben sich im Laufe der letzten zwei Jahre mehr als vervierfacht, berichtet der zuständige Verdi-Sekretär Hauke Oelschlägel gegenüber »nd«.

Auch dies ist exemplarisch für eine allgemeinere Entwicklung. Insgesamt verzeichnete die Dienstleistungsgewerkschaft im vergangenen Jahr 193 000 neue Mitglieder – vor allem in den bislang wenig erschlossenen Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen seien viele Kolleg*innen dazugekommen. Und unter den Beschäftigten, die jünger als 28 Jahre sind, verbuchte die Gewerkschaft einen deutlichen Zuwachs: Mit rund 50 000 machen sie etwa ein Viertel der Neueintritte aus. Die sind laut Verdi oft durch den Beginn einer Tarifrunde motiviert oder wenn es ein Problem im Betrieb gibt, für das Beschäftigte Unterstützung benötigen.

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Allerdings sind im Jahr 2023 auch etwa 150 000 Mitglieder aus der Gewerkschaft ausgetreten. Viele davon, weil sie in Rente gegangen sind. Austritte erfolgen aber auch, wenn Beschäftigte den Arbeitgeber wechseln oder das Problem, für das sie eingetreten sind, behoben ist. Die Mitgliedschaft sei laut Verdi stärker an einen Nutzwert gebunden als früher. Dennoch bleibt in der Jahresbilanz nach Abzug der Abgänge ein Plus von 40 000. Erstmals geht Verdi damit seit ihrer Gründung im Jahr 2001 mit mehr Mitgliedern in ein neues Jahr.

Damit ist die Gewerkschaft weiterhin mit ihren insgesamt rund 1,9 Millionen Mitgliedern hinter der IG Metall die zweitgrößte Arbeiter*innenvertretung in Deutschland. Und das zahlt sich aus: Eigenen Angaben zufolge konnte die Dienstleistungsgewerkschaft Beitragseinnahmen von rund 512 Millionen Euro verbuchen. Dabei sorgten die Neueintritte für ein Plus von 21,6 Millionen Euro im Vergleich zum Vorjahr.

Erklären lässt sich die Entwicklung durch einen Strategiewechsel. Mit dem »Projekt Zukunft der Mitgliedergewinnung« werden Beschäftigte frühzeitig in die gewerkschaftliche Willensbildung eingebunden und angeworben. Und mit sogenannten Tarifbotschafter*innen zielt die Gewerkschaft auf eine konfliktorientierte Tarifpolitik. Die hat im vergangenen Jahr in den großen Verhandlungen eine wichtige Rolle gespielt, zuletzt in der Tarifrunde der Länder.

Entscheidend dürften jedoch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gewesen sein. Hier spielt der knappe Arbeitsmarkt, insbesondere mit Blick auf Fachkräfte, den Gewerkschaften in die Hände. Sie haben dadurch eine starke Verhandlungsposition gegenüber den Unternehmen. Und die gestiegenen Preise wirkten unterstützend: »Mit intensiver Mobilisierungsarbeit ist es in einem von hohen Inflationsraten geprägten Umfeld gelungen, die Beschäftigten zu motivieren«, erklärt Verdi-Chef Frank Werneke die positive Bilanz.

Ob Verdi die auch in diesem Jahr beibehält, hängt davon ab, ob sie die Dynamik aufrechterhalten kann. Allerdings stehen erst im Jahr 2025 wieder größere Tarifauseinandersetzungen an. Und auch in Breisach bleibt die Frage offen: Bislang ist das Unternehmen nicht auf die Forderungen der Gewerkschaft eingegangen und die Streiks sind vorerst ausgesetzt. Sicher ist also nur, dass die neuen Verdi-Mitglieder einen langen Atem benötigen – nicht nur in der Tapetenfabrik am Rhein.

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