Happy Birthday, Haruki Murakami: Eine Mauer, die sich bewegt

Typisch und faszinierend: Zu seinem 75. Geburtstag veröffentlicht Haruki Murakami »Die Stadt und ihre ungewisse Mauer«

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 4 Min.

Haruki Murakami ist ein begnadeter Vielschreiber. Seit über 40 Jahren veröffentlicht der japanische Schriftsteller Romane, Erzählungen, Sachbücher, Essays und auch mal Autobiografisches, zum Teil in sehr voluminösem Umfang. Kein anderer asiatischer Autor ist auf dem westlichen Buchmarkt seit Jahrzehnten so präsent wie Murakami, der heute vor 75 Jahren in Kyoto geboren wurde und in einer Kleinstadt in der Nähe von Tokio lebt. Pünktlich zum Geburtstag kommt die deutsche Übersetzung seines neuen Romans »Die Stadt und ihre ungewisse Mauer« heraus. Dieses 640 Seiten dicke Opus sei während des Corona-Lockdowns entstanden, sagt Murakami, der damit voller surrealistischer Magie einen großen Bogen durch sein literarisches Werk schlägt.

Wie schon sein 1985 erschienener fantastischer Roman »Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt« basiert auch sein neues Werk auf einer der ersten Erzählungen, die Murakami Ende der 70er in einer japanischen Literaturzeitschrift veröffentlichte und mit der er nicht wirklich zufrieden war. »Dieser Text hat mich immer beschäftigt, ja gestört, wie eine kleine Gräte, die in meiner Kehle feststeckte«, schreibt er im Nachwort. Und so wurde aus dieser »kleinen Gräte« ein Roman mit 600 Seiten.

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Darin geht es um einen Mann, der als Traumleser in jener magischen und namenlosen Stadt mit Einhörnern und einem strengen Torwächter arbeitet, die man aus »Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt« kennt. Der ebenfalls namenlose Ich-Erzähler driftet von unserer Realität in die fantastische Stadt hinüber und wieder zurück. Wie immer in Murakamis Prosa geht es um den Verlust geliebter Menschen, sexuelles Begehren, verschüttete Erinnerungen aus der Adoleszenz, Träume und den ewigen Kampf, die kaum benennbaren Untiefen der menschlichen Seele auszuloten. Das alles ist wie üblich in einer verblüffend einfachen und dabei ungemein gefühlvollen Prosa geschrieben, deren erzählerischer Sog einem fast den Eindruck vermittelt, die Geschichte selbst mitzuerleben – trotz aller realitätsferner Fantastik. Denn Murakamis Romane, so magisch und surreal sie auch sind, haben stets etwas ungemein Bodenständiges und letztlich auch Beruhigendes, selbst wenn Magie und Geister darin vorkommen.

So einen Geist gibt es auch in »Die Stadt und ihre ungewisse Mauer«: ein freundlicher, weiser, alter Mann, der dem Erzähler beisteht. Er hilft ihm, seinen Weg von einer Wirklichkeit in die andere zu finden. Denn die große Liebe des Erzählers lebt in der geheimnisvollen Stadt. Aus Tokio, wo er sich als 17-Jähriger in sie verliebte, ist diese junge Frau plötzlich verschwunden. Aber eines Tages landet er als Mittvierziger in der surrealen Stadt. Die ist beileibe kein Paradies, selbst wenn dort Einhörner auf Wiesen grasen. Denn in den strengen Wintern sterben diese magischen Tiere massenhaft weg. Andere Tiere gibt es nicht, ebenso wenig Musik, nur in sich gekehrte Bewohner, die durch die Straßen laufen. Keiner, der dort lebt, hat einen Schatten. Doch die Geliebte aus der Jugend ist da. Sie arbeitet in der Bibliothek, in der der Erzähler jede Nacht alte Träume lesen muss, nachdem er sich einer schmerzhaften Augenoperation unterzogen hat. Er ist der einzige, der sich an die reale Welt jenseits der »ungewissen Mauer« erinnert. Dieses Bauwerk wird als »ungewiss« bezeichnet, weil es sich ständig verändert, anders als die surreale Welt, die es umschließt.

Murakami ist abermals ein faszinierender psychologischer Entwicklungsroman gelungen – mit seinen typischen Motiven der Einsamkeit des Großstädters, viel Jazz-Musik, romantischen Begegnungen und gemeinsamem Kochen. Die surreale Welt, in die der Ich-Erzähler hinüberdriftet, um dann auch wieder aus ihr zu verschwinden, lässt sich als Allegorie auf das Unbewusste lesen. Wie sehr hat man darauf Zugriff? Und wie sehr kann man Wirklichkeit gestalten? Welche Bedeutung spielen dabei Träume, Ängste, Ressentiments und Hoffnungen?

Das alles könnte auch gut aus einem küchenpsychologischen Baukasten stammen, wird von Haruki Murakami aber dramaturgisch als packendes stilistisches Kunstwerk umgesetzt, ohne ins Banale abzudriften. Diesen Spagat schafft der japanische Autor, der in seiner Jugend eine Jazz-Bar in Tokio betrieb und eine große Vorliebe für den magischen Realismus und die US-amerikanische Literatur und Popmusik hat, seit Jahrzehnten immer wieder.

Haruki Murakami: Die Stadt und ihre ungewisse Mauer. A. d. Jap. v. Ursula Gräfe. Dumont, 640 S., geb., 34 €.

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