Zurück in den Lockdown

Pandemien sind überall, auch auf dem Mond: »Das Meer der endlosen Ruhe« von Emily St. John Mandel

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 4 Min.
In Zeiten der Pandemie ist auch Küssen gefährlich.
In Zeiten der Pandemie ist auch Küssen gefährlich.

Für die kanadische Erfolgsautorin Emily St. John Mandel sind Pandemien ein immer wiederkehrendes Thema in ihren Romanen. Schon in ihrem 2014 erschienenen Roman »Station Eleven« (in dt. Übersetzung »Das Licht der letzten Tage«), der von HBO als Serie verfilmt und mitten im Corona-Lockdown ausgestrahlt wurde, ging es um eine postapokalyptische Welt nach einer Pandemie, in der eine Truppe Schauspieler mit Shakespeare-Stücken durch die nordamerikanische Pampa ziehen.

In ihrem neuen Roman »Das Meer der endlosen Ruhe« geht es gleich um mehrere Pandemien zwischen dem 20. und dem 23. Jahrhundert: Von der Spanischen Grippe über einen Ebola-Ausbruch und dem Beginn von Covid19 im Jahr 2020 bis hin zu einer Sars-Krankheit, die die Erde und auch die Kolonien auf dem Mond heimsucht. Dabei stellt sich heraus, dass diese zukünftige Pandemie für die Menschen, die Anfang des 23. Jahrhunderts in einer kuppelüberwölbten Stadt auf dem Mond leben, nicht viel anders abläuft als das, was wir gerade mit Corona erlebt haben. Der über sie verhängte Lockdown kommt einem bekannt vor. Erst mal ist es für alle ein gewaltiger Schock, dann wird reflexartig alles desinfiziert, die Kinder werden aus der Schule abgeholt, es gibt Homeschooling, Lebensmittel werden gehortet und statt Besprechungen per Zoom oder Teams abzuhalten, gibt es in dieser Zukunft holographische Räume, in denen eine der Hauptpersonen, die Schriftstellerin Olive Llewellyn, dann ihre Lesungen abhält.

Der gerade mal knapp 300-seitige Roman ist in vier verschiedenen Zeitebenen angesiedelt und fächert ungemein detailliert inszenierte Zukunftswelten auf, die durch die Pandemien erzählerisch verbunden werden. 1912 reist ein junger englischer Adeliger, der von seinen Eltern wegen unsteten Lebenswandels aus dem Haus geworfen wurde, in die kanadische Provinz, wo er eine unglaubliche Entdeckung macht. Zwei Frauen, die Anfang 2020 zu Beginn der Corona-Pandemie in New York sind, durchleben eine dramatische Geschichte um ein verlorenes Vermögen und zerstörte Familien. Zweihundert Jahre später veröffentlicht die auf dem Mond geborene Schriftstellerin Olive Llewellyn einen Roman über eine Pandemie, kurz bevor eine weitere ausbricht und sie auf einer Lesereise in New York steckenzubleiben droht, während Mann und Tochter in der Mondkolonie auf sie warten. Und noch einmal 200 weitere Jahre in der Zukunft beginnt der junge Gaspery-Jacques in einer anderen Mondkolonie seine Ausbildung bei einem Zeitinstitut, das seine Mitarbeiter zu Missionen in die Vergangenheit schickt.

Das Außergewöhnliche an dieser Prosa ist Emily St. John Mandels Fähigkeit, mit knappen Sätzen und minimalistischen Beschreibungen ganze zukünftige Welten zu entwerfen, die dabei aber ungemein stimmig wirken. Mal fliegen riesige Luftschiffe durch den Himmel, dann ermöglichen künstliche Atmosphären das Leben in Weltraumkolonien, aus deren Alltag sehr lebendig erzählt wird, und dann gibt es einen geheimnisvollen Mann, der in den verschiedenen Zeitebenen immer wieder auftaucht.

Emily St. John Mandels Sprachstil ist dabei einfach gehalten, aber ungemein konzis und sehr gefühlvoll. Ihre zukünftigen Welten auf der Erde, dem Mond und in den »Fernen Kolonien« sind weit weniger dystopisch oder utopisch-perfekt angelegt als in solchen Genre-Erzählungen üblich. Dabei hat die Erde durchaus dramatische Veränderungen erlebt, es gab Flutkatastrophen und Dürren, ganze Landstriche wurden entvölkert. Aber die Menschheit hat sich mit den Veränderungen arrangiert, lebt weiter in großen, oftmals überkuppelten Städten, weil die Luft zu giftig ist, und verfügt über neue Technologien zum Überleben, anstatt ein postapokalyptisches Dasein zu fristen.

Die Zeitreisen werden schließlich zum eigentlichen Erzählgegenstand dieses außergewöhnlichen Romans, dessen Handlung sich sozusagen um die eigene Achse faltet. Denn wie sich herausstellt, gibt es in einem Wald an der kanadischen Küste einen Ort, an dem sich unterschiedliche Zeitlinien überlagern. Nur wie ist das möglich? Kann die ganze Welt unter Umständen nur eine Simulation sein, die fehlerhafte Dateien aufweist? Wenn ja, was folgt daraus? Diese Theorie steht bald im Raum und wird heftig diskutiert, unter anderem vom Zeitreisenden Gaspery-Jacques zusammen mit seiner Schwester Zoey, die sich ebenfalls in die Vergangenheit aufmacht, um der Lösung dieses Rätsels zumindest näherzukommen. Am Ende wartet dieser kunstvoll durch fünf Jahrhunderte mäandernde Roman mit einer überraschenden Lösung auf.

Emily St. John Mandel: Das Meer der endlosen Ruhe. A.d. amerik. Engl. v. Bernhard Robben, Ullstein-Verlag, 288 S., geb. 22,99 €.

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