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Berlinale-Panorama »Janet Planet«: Raus aus dem Schneckenhaus
Berlinale-Panorama: In »Janet Planet« seziert Regisseurin Annie Baker eine innige Mutter-Tochter-Beziehung
Wer erinnert sich noch an das Gefühl, als man das erste Mal allein weg von zu Hause längere Zeit ohne die Eltern verbrachte? Meistens in irgendwelchen Ferienlagern. Die einen ließen sich nichts anmerken, machten bei jeder Aktivität begierig nach neuen Erfahrungen mit, andere beobachteten die Szenerie zunächst mit Abstand, bis sie auftauten und jauchzend beim Neptunfest zuerst ins Wasser geworfen wurden. Wieder andere traf das Heimweh sofort nach einem Tag wie der Blitz. Diese neue Freiheit fühlte sich für alle sehr eigenartig an.
Zu den Kindern, die außerhalb ihres Safe Space nur schwer funktionieren, gehört die 11-jährige Lacy (Zoe Ziegler) in Annie Bakers Debütfilm »Janet Planet«, der auf der Berlinale in der Sektion Panorama zu sehen ist. Zu Beginn des Films sieht man das junge Mädchen in einem Sommercamp am Telefon, der Mutter am anderen Ende den Satz entgegenschmetternd: Hol’ mich sofort ab oder ich bringe mich um!
Schon früh ist also klar, dass sich Baker nicht den Klischees von magischen Kindheitssommertagen hingeben will, sondern es auf die penible Erforschung einer engen Mutter-Tochter-Beziehung abgesehen hat.
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Lacys Mutter Janet (Julianne Nicholson) ist eine alleinerziehende Hippie-Akupunktur-Therapeutin mit einem wunderschönen Holzhaus im Nirgendwo von Massachusetts und einem Hang zur Gefallsucht (»Ich habe den Zwang, dass sich alle Männer, denen ich begegne, in mich verlieben müssen«). Dabei ist sie keineswegs eine Femme Fatale, der das Begehrtwerden wichtiger ist als eine liebevolle Beziehung zu ihrer Tochter. Im Gegenteil, Lacy und Janet begegnen sich oft auf Augenhöhe. Janet spricht mit ihrer pre-pubertären Tochter nicht wie mit einem Kind, sondern häufig wie mit einer Freundin. Lacy wiederum überfordert das nicht, es verleiht ihr eine für eine Elfjährige eher außergewöhnlich ausgeglichene Aura.
Die Mutter-Tochter-Verbindung wird im Laufe des knapp zweistündigen Films durch drei Begegnungen unterbrochen. Die Kapitel »Wayne«, »Regina« und »Avi« sind nach Personen benannt, die Janets Beziehung zu ihrer Tochter jedes Mal auf die Probe stellen. Dabei sind Wayne (Will Patton) und Avi ( Elias Koteas) Janets Liebhaber, deren Existenz aber keine größeren Verwerfungen im Mutter-Tochter-Kosmos auslösen, aber aufzeigen, welch unterirdisch schlechten Männergeschmack Janet besitzt. Janet fragt Lacey auch um Rat, ob die aktuelle Beziehung noch etwas taugt. Schlussendlich hat nur die Liebe zwischen Mutter und Tochter Bestand.
Das Drehbuch zu »Janet Planet« lag 20 Jahre brach in Bakers Notizbüchern. Erst 2022, mitten in der Pandemie, fand sie während der Schläfchen ihrer kleinen Tochter Zeit, am Script zu arbeiten. Baker hatte sich zuvor in der Theaterwelt etabliert und mit dem Stück »The Flick« über Prekarität und Rassismus einen Pulitzer-Preis gewonnen. Der Film, der bereits 2023 auf dem Telluride Filmfestival in Colorado seine Premiere feierte und von der angloamerikanischen Kritik weitgehend positiv aufgenommen wurde, schafft es nie so richtig aus den Startlöchern zu kommen.
Was die Synopsis als subtil erzählte Emanzipationsgeschichte Lacys anpreist, sind streckenweise kaugummiartig in die Länge gezogene Einstellungen, die Nähe suggerieren sollen und auf die selbst Jim Jarmusch neidisch wäre, die aber die Charaktere deshalb nicht zugänglicher machen. Baker verliert sich zuweilen zu sehr in ihrer Liebe für die beiden schrulligen Hauptpersonen (Baker selbst wuchs im ländlichen Massachusetts auf, ihre Eltern ließen sich scheiden, als sie sechs war), ohne ihre Motivation für bestimmte Handlungen zu erklären. Warum scheitert die Beziehung zu Avi ausgerechnet bei einem romantischen Picknick? Nähe zulassen zu können, war bisher nicht Janets großes Problem. Warum streiten Janet und Lacy eigentlich nie? Wer so innig miteinander ist, berührt zwangsläufig den Tanzbereich des anderen.
Dennoch schafft »Janet Planet« ein streckenweise berührendes Porträt zweier Menschen, die jeden Gedanken miteinander teilen, weil sie ein Vertrauensverhältnis miteinander haben, das niemals von außen oder innen infrage gestellt werden kann. Die Kamera der Schwedin Maria von Hausswolff schafft, was das Drehbuch eher vernachlässigt, die Unterschiedlichkeit von Mutter und Tochter herauszustellen. So sieht man Lacy manchmal in Großaufnahme von oben, aber nur bis zur Nase (aus der Erwachsenenperspektive). Sie ist ja schlussendlich immer noch ein Kind mit Kinderproblemen und ganz eigenen Antworten: Wo stehe ich in der Welt, wie unterscheide ich mich von anderen?
»Janet Planet«: USA 2023, Regie und Drehbuch: Annie Baker. Mit: Julianne Nicholson, Zoe Ziegler, Elias Koteas, Will Patton. 113 Minuten. Termine: Fr 16.2., 15.30 Uhr, Zoo Palast 1, Fr 16.2., 15.30 Uhr, Zoo Palast 2, Sa 17.2., 12 Uhr, Haus der Berliner Festspiele, So 18.2., 18.45 Uhr, Cubix 5, Mo 19.2., 18.30 Uhr, Colosseum 1, Do 22.2., 16 Uhr, Cineplex Titania, So 25.2., 16.30 Uhr, International
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