So viel Zeit muss sein

Jossi Wieler inszeniert »Orlando« am Deutschen Schauspielhaus Hamburg und verlässt sich dabei auf die Kraft des Textes

  • Andreas Schnell
  • Lesedauer: 4 Min.
So richtig Fahrt nimmt der Abend nicht auf: Linn Reusse (links) und Sachiko Hara auf der Bühne des Schauspielhauses
So richtig Fahrt nimmt der Abend nicht auf: Linn Reusse (links) und Sachiko Hara auf der Bühne des Schauspielhauses

Der Baum ist gefällt. Zumindest dreht er sich vertikal auf der von Katrin Brack gestalteten Bühne des Deutschen Schauspielhauses Hamburg, ist schon zum Teil zerlegt, zwischen Wurzel und Stamm klafft eine Lücke. Eigenartig: Ein Mann schraubt Zweige an die Äste. Eine Frau befestigt Grünzeug am Stamm. In dessen Innerem befindet sich eine Kammer mit Regalböden.

Einem Baum, genauer: einer Eiche hat Virginia Woolfs Romanfigur Orlando, englischer Adliger aus dem 16. Jahrhundert, ein Gedicht gewidmet. Jenes erscheint in Woolfs berühmtem Werk »Orlando. Eine Biographie« erst im Jahr 1928, im Jahr der Veröffentlichung des Romans – Orlando lebt da noch. Er bringt es somit auf mehrere hundert Jahre. Regisseur Jossi Wieler verlängert Orlandos Lebenszeit in seiner Inszenierung des Stoffs gar bis in unsere Gegenwart: Mehrmals verortet eine der Schauspielerinnen, die diese fantastische Geschichte erzählen, deren vorläufiges Ende im Januar 2024.

Woolf erlebte mit »Orlando« ihren Durchbruch als Autorin. Dabei war der Roman eigentlich als kleine »Eskapade« gedacht nach einer intensiven Arbeitsphase. Zwar mag er in wenigen Monaten entstanden sein, raffiniert konstruiert ist er dennoch. Die Verwandlung seiner Hauptfigur vom Mann zur Frau machte ihn zum feministischen Klassiker – dabei ist das längst nicht alles, worum es geht.

Orlando lebt das Leben eines Adligen, wird von Königin Elisabeth I. zunächst protegiert, fällt später in Ungnade, weil er sich mit einer Hausangestellten einlässt, verliebt sich dann in eine Prinzessin aus Moskau, die ihn aber sitzenlässt. Er zieht sich zurück, beginnt zu schreiben, aber auch in dieser Hinsicht stoßen seine Mühen nicht auf Gegenliebe. Schließlich lässt er sich als Gesandter nach Konstantinopel schicken. Während eines Aufstands gegen den Sultan fällt Orlando in einen tiefen, tagelangen Schlaf, der ihm das Leben rettet. Denn die Aufständischen töten alle Ausländer, die ihnen in die Finger kommen. Als Orlando erwacht, ist er eine Frau. Später wird sie sich in den geschlechtlich nicht festgelegten Kapitän Marmaduke Bonthrop Shelmerdine verlieben, ihn heiraten, noch später wird ihre Hymne an die Eiche veröffentlicht.

Deren Materialisierung auf der Bühne in Hamburg muss einiges über sich ergehen lassen. Den mühsamen Aufbau macht ein Sturm teilweise zunichte, so richtig fertig zusammengesetzt wird dieser Baum bis zum Ende des Abends nicht. Das ist bei Woolf wie in Wielers Inszenierung (Bühnenfassung: Ralf Fiedler) Sinnbild für ein großes Thema: Es geht nicht allein um die Auflösung der Geschlechterrollen, sondern auch um die Fragwürdigkeit des Identitätsbegriffs an sich sowie die Fragwürdigkeit der großen Erzählungen: »Mutter Natur, die so vieles zu verantworten hat«, heißt es in »Orlando«, »hat auch zuwege gebracht, dass das ganze Sammelsurium mit einem einzigen Faden nur locker aneinandergereiht ist. Die Näherin ist die Erinnerung, und sie ist eine launische Näherin.«

Dass Orlando ausgerechnet in Konstantinopel zur Frau wird, ist natürlich kein Zufall. Das heutige Istanbul war ein multikultureller Hotspot. Woolf legt obendrein Orlandos Transformation in die Zeit des Niedergangs des Osmanischen Reichs, als die Stadt zum Spielball imperialistischer Ambitionen wurde. Hier und an anderen Stellen kommentiert »Orlando« mit feinem Witz kursierende gesellschaftliche Vorstellungen.

Auf der Bühne fallen diese Aspekte aber unter den Tisch, an dem Sandra Gerling, Linn Reusse, Hildegard Schmahl, Bettina Stucky und Julia Wieninger die Abenteuer des Orlando scheinbar zusammenfabulieren, sich gegenseitig inspirierend, präzisierend, korrigierend. Das ist für sich genommen wunderschön gemacht. Aber vor dem Hintergrund der doch eher gemächlich vor uns hin rotierenden Rieseneiche ist der Abend eher ein langer ruhiger Fluss als ein schillerndes Wunderwesen. Die Kostüme (Anja Rabes) spielen zwar mit viktorianischen Dresscodes und heutiger Alltagskleidung, aber vor allem verlässt sich Wieler auf die Kraft des Textes – mit dem für einen so erfahrenen Theatermacher doch ein wenig dünnen Argument, das Theater könne der Opulenz jener Zeiten nicht gerecht werden.

Stattdessen hat er einen Abend geschaffen, der in seinen eindreiviertel Stunden die Zeit gefühlt langsamer werden lässt, vielleicht zu langsam, denn eigentlich ist »Orlando« ein rasanter Ritt durch Jahrhunderte, der hier nicht recht in der Gegenwart ankommen will. Aber er arbeitet zentrale Fragen des Romans subtil heraus, scheinbar die Gedanken im Erzählen verfertigend, was das Frauenquintett hinreißend darstellt, während Lars Rudolph und Sachiko Hara kaum etwas zu sagen haben, dafür umso konzentrierter ihrer Arbeit am Baum nachgehen. Vielleicht gehören sie nicht in die sich mit und um Orlando wandelnde Gesellschaft. Das Schillern von Orlandos Lebenslauf entsteht so vor allem in den Köpfen des Publikums – wenn es sich auf diese Fantasieübung einlässt. Der Applaus war warm, nicht überschwänglich.

Nächste Vorstellungen: 28. 2., 15. 3., 27. 3., Deutsches Schauspielhaus Hamburg

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