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Die Siedler sind die Geiselnehmer

Israelische Friedensfreunde auf verlorenem Posten? Nein – das beweisen David Grossman und Moshe Zimmermann

  • Stefan Berkholz
  • Lesedauer: 6 Min.

Der israelische Schriftsteller David Grossman wurde 2010 wurde mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt. Die Begründung: sein Engagement für den israelisch-palästinensischen Dialog. Eine schmale Sammlung von Texten und Reden des 70-jährigen Schriftstellers zur gegenwärtigen politischen Situation in und um Israel bestätigt dies: »Frieden ist die einzige Option«.

Im Februar 2017 erhob David Grossman als Gast auf der Münchner Sicherheitskonferenz seine Stimme und sprach eine förmliche Bitte beinahe flehentlich aus, eine Bitte an die friedliebende Welt. Damit beginnt die hier vorzustellende Textsammlung: »Wir brauchen Ihre Hilfe. Wir, die Israelis und die Palästinenser, die in Frieden leben wollen, die gegen Besatzung und Terror sind, die Gewalt jeder Art verabscheuen (…) Wenn Ihnen Frieden und Sicherheit wichtig sind, dann unternehmen Sie etwas, um Israel und die Palästinenser aus dem Kreislauf der Selbstzerstörung zu erretten.«

Sieben Jahre sind vergangen seitdem. Und nun, nach dem 7. Oktober vergangenen Jahres? Nach dem Massaker an jüdischen Zivilisten? Mehr als 1000 Menschen wurden von der islamistischen Hamas ermordet, mehr als 200 Geiseln verschleppt. Und der Krieg nimmt kein Ende, die Vergeltung schreitet voran. Vor sieben Jahren schloss Grossman seine Rede mit den Worten: »Wie viel Blut muss noch vergossen werden, bis wir einsehen, dass der Frieden unsere einzige Option ist?«

Sechs Tage nach dem Terroranschlag veröffentlichte die »FAZ« einen Artikel von Grossman, der in der zweiten Hälfte des vorliegenden Buches abgedruckt ist. »Schwarzer Schabbat« ist er überschrieben. Aus der unmittelbaren Erschütterung heraus findet Grossman klare, eindeutige Worte: »Tief sitzt das Gefühl, verraten worden zu sein. Die Regierung hat ihre Bürger verraten. (…) Hat das kostbarste Pfand verraten, das zu hüten ihr aufgetragen war: die nationale Heimstätte für uns Juden zu sein.«

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Ja, auch Grossman ist zornig auf die extremistische israelische Regierung von Benjamin Netanjahu. Der Schriftsteller sieht seine Heimat vor dem Abgrund, beklagt die Korruption in führenden Kreisen, kriminelle Energie, den Angriff auf die Demokratie. Doch dann richtet er seinen Blick zunächst wieder auf die Verfolger jenseits der Grenze. »Die Gräueltaten dieser Tage sind nicht Israel zuzuschreiben. Sie gehen aufs Konto der Hamas. Wohl ist die Besatzung ein Verbrechen, aber Hunderte von Zivilisten zu überwältigen, Kinder, Eltern, Alte und Kranke, und dann von einem zum anderen zu gehen und sie kaltblütig zu erschießen – das ist ein viel schwereres Verbrechen.«

In diesen vier Redetexten und drei Zeitungsaufsätzen, vorrangig aus den Jahren 2021 bis 2023, ist eine zivile, eine friedliebende, auf Versöhnung bedachte Stimme zu vernehmen. Und die Situation im bedrohten Land? Werden die Massendemonstrationen in Israel sich wieder sammeln, um die Regierung Netanjahu zu überstimmen? Grossman ist skeptisch, fürchtet, dass das Land nach dem Krieg »sehr viel rechter, militanter und auch rassistischer sein« werde. Zwischen Verzweiflung, Skepsis und immer wieder aufflammender Hoffnung schwanken diese Zeilen eines friedliebenden Schriftstellers, der in Sorge ist um seine Heimat. Die offene Frage ist, ob und wie die sogenannte Realpolitik in dieser verfeindeten Region zu bewegen sein wird.

Liest man das kühle, nüchterne Buch des 80-jährigen israelischen Historikers Moshe Zimmermann, kann alle Hoffnung fahren gelassen werden. Die derzeit verantwortlichen Politiker der Region werden eine friedliche Lösung nicht zulassen, entnimmt man diesem Buch. Solange nicht ein kräftiger Arm der Vernunft von außen Einhalt gebietet, wird das Morden im Kriegsgetümmel weitergehen.

Zimmermann ist sich wie Grossman sicher, dass weder das Militär noch die Besatzungspolitik den Weg zu einem Frieden bereiten können: »Die Sicherheit Israels ist nicht mit mehr Militärhilfe, mehr U-Booten zu gewährleisten, sondern eher über eine Annäherung an die Länder der Region, vor allem an die Palästinenser, ausgehend von der Zweistaatenlösung.« Zimmermann bezeichnet die Siedlungen mitten im besetzten Westjordanland als »apartheid-ähnliches System«. Und betont: Die Siedler sind privilegiert, die Palästinenser hingegen diskriminiert.» Seit 1977 bestimme vor allem das Schicksal der Siedlungen die israelische Politik, urteilt der Historiker, Israel befinde sich in einer «Geiselsituation» der Siedlerbewegung. Eine Verständigung sei mit der derzeitigen Regierung unter Netanjahu ohnehin nicht in Sicht. Zimmermann geht sogar noch weiter: «Die rechtsradikale Regierung hat viel zur Motivation der Hamas beigetragen, Israel anzugreifen.»

Als «Kakistokratie – die Herrschaft der Schlechtesten», bezeichnet der Histoiker die rechtsextreme Regierung Israels, die den Staat als Beute betrachte und sich schamlos für ihre Zwecke bediene. «Sie plündern buchstäblich die Staatskasse, um eine nationalistische Theokratie zu fördern. Die Dreifach-Kombination Kakistokratie, Kleptokratie und Theokratie ist ohne Zweifel das Gegenteil von dem, wofür der Zionismus in früheren Zeiten stand.» Unerschrocken listet der israelische Historiker Tabus auf, die in der deutschen Debatte zu Verteufelungen der jeweiligen Gegenposition führen. «Bereits vor dem 7. Oktober war mir klar, dass gerade die israelische Regierung die größte Gefahr für das Land und die Region ist und deshalb Deutschlands Toleranz gegenüber dieser Regierung als Verrat an der Aufgabe, Israels Sicherheit als deutsche Staatsräson zu betrachten, zu sehen ist.»

Diese bei uns von staatlicher Seite wie eine Monstranz vor sich hergetragene Formel – «Deutsche Staatsräson» – sei nichts weiter als «ein Slogan, ein Bluff», ein verlogener, heuchlerischer Gemeinplatz. Denn Deutschland tue wenig für eine Versöhnung zwischen den kriegerischen Parteien. Kopfschüttelnd und empört zitiert Zimmermann aus einer Vorlage des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags vom 27. März 2020. Darin heißt es zusammenfassend: «Letztlich wird kein Weg daran vorbeiführen, dass die Konfliktparteien eine tragfähige Lösung im direkten Dialog anstreben.» Doch die seien dazu gar nicht in der Lage, wird in der Analyse zuvor bekannt. Deutschland sei also machtlos.

«Wie soll man diese Logik verstehen?», fragt Zimmermann. Und er folgert: «Das wahre Fazit für die deutsche Politik, wenn dieses Papier des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags ernst genommen wird, lautet also: Hände weg davon! Da die Sicherheit Israels nur durch eine Konfliktregelung über die Zweistaatenlösung zu gewährleisten ist und Deutschland resignieren muss, weil es ›ungeeignet‹ ist, bleibt die Parole ›Israel ist deutsche Staatsräson‹ ein Bluff, und der Weg in den Abgrund ist frei.»

Sehr komprimiert, verdichtet und griffig umreißt Zimmermann die verwickelte Geschichte auf engstem Raum. In seiner analysierenden Tiefenschärfe ist das Buch ernüchternd und deprimierend zugleich. Die verheerende Politik Netanjahus und seiner extremistischen Regierung, die isolationistisch gepolt ist, wird weitergeführt wie gehabt, wenn sich der Widerstand im Land nicht wieder sammeln wird. «Was ich in diesem Buch anzubieten versuchte, bezeichne ich als konstruktiven Pessimismus.» Mit diesen Worten beendet der Historiker seine Bestandsaufnahme. Der Leser bleibt benommen und beklommen zurück.

David Grossman: Frieden ist die einzige Option. A. d. Hebr. v. Anne Birkenhauer u. Helene Seidler. Hanser, 64 S., geb. 10 €;
Moshe Zimmermann: Niemals Frieden? Israel am Scheideweg. Propyläen, 192 S., geb., 16 €.

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