Hajo Funke: Wie ein Land ins Unglück gestürzt wurde

Hajo Funke ist überzeugt: Verhandeln ist der einzige Weg zum Frieden

Dieser Krieg ist kein Naturereignis. Er entsteht, weil Menschen die Macht dazu haben, ihn zu führen, andere ihn nicht verhindern wollen und wieder andere ihn nicht verhindern können», schreibt Hajo Funke im Rückblick auf die Entfesselung des Ukraine-Krieges vor über zwei Jahren. Der Politikwissenschaftler, der bis 2010 am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin lehrte, mahnt sorgenvoll, dass es keinen Sieg der Ukraine ohne deren nahezu vollständige Verwüstung geben wird. Eine Einschätzung, die er mit seriösen Militärs in den USA, in Deutschland und auch in der Ukraine teilt. Die logische Konsequenz wäre demnach: «Wenn es einen solchen Sieg nicht geben kann, ist es verantwortlich, auf Verhandlungen zu sinnen und die Chancen hierzu auszuloten.» Stattdessen jedoch wird die Ukraine weiter vom Westen aufgerüstet, sehenden Augens ins eigene Verderben gestützt. Game Changer, «ein in Talkshows von Carlo Masala oder Marcus Keupp inflationär gebrauchtes und sachfremdes Wort», sollen die an Kiew gelieferten, stetig neuen und moderneren Waffen sein.

Natürlich geißelt Funke den brutalen Angriff Putins auf die Ukraine. Er zeigt aber auch akribisch auf, wie es dazu kommen konnte, widerlegt detailliert die Behauptung, dass dieser Krieg unvermeidlich gewesen sei. Er war vermeidbar. «Die Eskalation hätte gestoppt werden können. Selbst nach Beginn des Krieges hat es verpasste Chancen gegeben.» Doch jegliche Angebote von russischer Seite und Vermittlungsbemühungen Dritter seien nicht ernst genommen worden.

Funke spannt einen weiten Bogen, dies zu beweisen, erinnert an die Vision des letzten KPdSU-Generalsekretärs Michail Gorbatschow von einem gemeinsamen europäischen Haus, anfänglich im Westen goutiert, jedoch nicht mit ehrlichen Absichten, sondern heuchlerisch. Wie sich bereits wenige Jahre später mit der Nato-Osterweiterung unter Bruch von in den Verhandlungen zur deutschen Einheit gemachten Zusicherungen. Der Autor zitiert den US-Historiker George Kennan, der diese als «folgenschwersten Fehler der amerikanischen Politik seit dem Ende des Kalten Krieges» bezeichnete. «Es ist damit zu rechnen, dass diese Entscheidung nationalistische, antiwestliche und militaristische Tendenzen in der russischen Öffentlichkeit stärkt, eine neuen Kalten Krieg in den Ost-West-Beziehungen auslöst und die russische Politik in eine Richtung drängt, die überhaupt nicht unseren Wünschen entspricht», hatte dieser unter der Überschrift «A fateful error» (Ein schicksalhafter Irrtum) in der «New York Times» am 5. Februar 1997 geschrieben. Die US-amerikanischen Administrationen hernach zeigten indes kein Interesse an einer vernünftigen, ausgleichenden, kooperativen Sicherheitspolitik gegenüber Russland, konstatiert Funke. Vor allem bei George W. Bush junior mit seiner «Gotteskriegermentalität» stießen russische Sicherheitsinteressen auf taube Ohren. Zugleich unternahmen alle US-Regierungen alles, um eine deutschen Interessen entsprechende ökonomische und politische Kooperation mit Russland zu behindern.

nd.Kompakt – unser täglicher Newsletter

Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.

Gab es 2001 im Deutschen Bundestag noch stürmische Begeisterung für Putin, Applaus von allen Fraktionen für seine in Deutsch gehaltene Rede der ausgestreckten Hand und ließ der im Jahr darauf aus der Taufe gehobene Nato-Russland-Rat noch Hoffnung nach strategischer Partnerschaft aufkommen, schien gar eine EU- oder Nato-Mitgliedschaft Russlands möglich, so sollte 2008 eine fatale Abkehr von allen vernünftigen Ansätzen bringen. Funke spricht von einem «Schlüsseljahr». Mit der Entscheidung in Bukarest, perspektivisch die Ukraine und Georgien in die Nato aufzunehmen, brüskierte man Moskau. Ab da erfolgte auch die Abkehr Putins von einer freundlichen Haltung gegenüber dem Westen. Über dessen warnende Kritik auf der Münchener Sicherheitskonferenz im selben Jahr wurde «arrogant hinweggegangen».

Habe sich Putin anfangs als ein liberaler, auf Zusammenarbeit bedachter Präsident gezeigt, radikalisierte er sich darob schrittweise zu einem antiwestlichen Nationalisten. Mit seiner Wiederwahl zum Präsidenten 2012 und der Gründung des einflussreichen Isborsk-Klubs, eines ideologischen Bündnisses patriotischer Statsmänner, hätten die autoritär-nationalistischen Bestrebungen in Russland neuen Auftrieb erfahren, so Funke, der in seinem Buch einige führende Vertreter kurz vorstellt. Hatte Putin zu Beginn seiner Karriere an der Spitze der Macht in Russland gern Kant zitiert, insbesondere aus dessen Schrift «Zum ewigen Frieden», lässt er sich heute von Antidemokraten wie dem die Nazis glorifizierenden, 1954 verstorbenen russischen Philosophen Iwan Iljin, dem Slawophilen Nicolai Danilewski und dem eurasischen Neofaschisten Alexander Dugin inspirieren.

Nun könnte man hier natürlich einwenden, dass die politische und weltanschauliche Wandlung eines Menschen dessen eigene Wahl ist. Es lässt sich aber nicht leugnen, dass in diesem Fall der Westen diese befördert hat. Seit seiner ersten Präsidentschaft hat Putin in Vorträgen wie auch konkreten Angeboten und Initiativen für kooperative Sicherheit geworben. Mit dem vermutlich durch Infiltration westlicher Geheimdienste ausgelösten Putsch am 20. Februar 2014 gegen den damaligen ukrainischen Präsidenten sowie den darauf folgenden Auseinandersetzungen auf der Krim und der Diskriminierung der mehrheitlich russischen Bevölkerung in Luhansk und Donezk durch das Verbot der russischen Sprache, laut Funke «eine absolute Provokation», war die Lunte am Pulverfass gezündet. Eine wahrhaftige Durchsetzung der beiden Minsker Abkommen zur Begrenzung der Konflikte in der Ostukraine, unter anderem durch in Aussichtstellen von mehr Autonomie, ist selbst von den Garantiemächten Deutschland und Frankreich nicht angemessen unternommen worden.

Der 2019 gewählte ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyyi entschied sich mit Rückhalt einer parlamentarischen Mehrheit, den Nato-Beitritt anzustreben und schloss am 31. August 2021 ein Militärabkommen mit den USA, das unter anderem die Modernisierung der seit 2017 verstärkt gelieferten Waffen vorsah. Nun steuerte man im Stakkato auf den Krieg zu, merkt Funke an. Ein vom Kreml am 17. Dezember 2021 vorgeschlagenes Abkommen wurde ausgeschlagen. Funke zitiert Theo Sommer, den langjährigen Herausgeber der «Zeit», der damals eindringlich appellierte: «Im Ukraine-Konflikt braucht es dringend Komunikation. Doch die Regierungen setzen auf Militäraktionen, das Verhältnis zwischen den USA und Russland ist vergiftet.»

Zu den verpassten Chancen des Westens zur Beilegung des Konflikts und Vermeidung des furchtbaren Krieges gehörten auch die einseitigen Kündigungen des sicherheitsstrategisch bedeutungsvollen ABM- sowie INF-Abkommen seitens der USA. Initiativen zur raschen Beendigung des Krieges wie etwa aus Peking auszuschlagen, schreibt Funke vor allem den neokonservativen Hardlinern um US-Außenminister Antony Blinken, aber auch der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock zu.

Rezepte, wie man zu einem Waffenstillstand und schließlich Frieden in der Ukraine gelangt, hat Hajo Funke nicht. Er verweist aber sehr wohl auf eine Wiederbelebung einstiger deutscher und europäischer Entspannungspolitik als einen wesentlichen Schritt hierfür. «Verhandeln ist der einzige Weg zum Frieden» lautet seine Botschaft, die man sich in aller Ohren wünscht, vor allem der politisch und militärisch Verantwortung tragenden Kräften in West wie Ost.

Hajo Funke: Ukraine. Verhandeln ist der einzige Weg zum Frieden. Die Buchmacherei, 110 S., br., 10 €.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -