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Langer Fahrradmarsch: »Ab 23 Uhr ist Freizeit«
Auf Maos Spuren: Christian Y. Schmidt und Volker Häring über ihren Langen Fahrradmarsch
Unter dem Motto »So weit die Füße radeln« fahren Sie in China mit dem Fahrrad den Langen Marsch, den Mao mit seiner Armee 1934/35 unternommen hat. Nach einer Winterpause beginnt am 5. März der zweite Teil. Wie lang ist der Lange Marsch?
Christian Y. Schmidt: Es gibt unterschiedliche Angaben. Unser Langer Marsch ist etwa 7000 Kilometer lang. Wir orientieren uns dabei an zwei Engländern, die ihn Mitte der Nullerjahre abgelaufen sind und darüber ein Buch geschrieben haben: Ed Jocelyn und Andrew McEwen. Sie haben dann am Ende erzählt, der Lange Marsch sei 6800 Kilometer lang. Dem haben chinesische Medien sofort widersprochen, auch wenn sie deren Projekt okay fanden. Aber die offizielle Zahl in der chinesischen Geschichtsschreibung sind 11 000 Kilometer, daran soll nicht gerüttelt werden.
Volker Häring: Wir haben unterwegs einen Oberst der Volksbefreiungsarmee getroffen, der den Langen Marsch erforscht. Er spricht von 14 000 Kilometern. Der Lange-Marsch-Teilnehmer Otto Braun, dessen Spur wir u.a. verfolgen, schreibt, es seien 10 000 Kilometer gewesen.
Christian Schmidt (r.), Jahrgang 1956, ist Ex-Maoist und Ex-»Titanic«-Redakteur, Schriftsteller und Journalist. Zuletzt erschien von ihm: »Corona Tests Beijing. Neunundsechzig Massentests in China« (2023). Volker Häring, Jahrgang 1969, ist Reisejournalist, Fotograf und Fahrradurlaub-Veranstalter. Zuletzt erschien von ihm »Radelzeit an der Mecklenburgischen Seenplatte« (2023).
Warum gibt es solche Variationen?
Schmidt: Unter anderem, weil es in Wahrheit drei lange Märsche von drei Armeen gab, die auch von unterschiedlichen Orten losmarschiert sind. Wir folgen nur der ersten Armee mit Mao, Otto Braun und anderen bekannten Leuten, die letztendlich dann auch die weiteren Geschicke des Landes bestimmt haben. Aber auch über diese Länge der Strecke gibt es Kontroversen.
80 000 Kämpfer sind losgelaufen und nur jeder zehnte davon ist angekommen.
Schmidt: Ja, es gab viele Schlachten und Tote. Aber es wurden auch Verwundete zurückgelassen, ebenso Gruppen von Kadern, um vor Ort zu organisieren. Soldaten sind erfroren, ertrunken oder desertiert. Man darf sich das auch nicht so vorstellen, dass die in Kolonne marschiert sind, das wäre auch zu gefährlich gewesen, sie wurden ja auch mit Flugzeugen angegriffen. Die sind nicht nur durch das eine Tal, sondern auch durch das Nebental marschiert, es gab Vorhut und Nachhut. Wir folgen Otto Braun, der immer mit der Führung zusammen war, das macht es ein bisschen einfacher.
Wie ist der auf den Langen Marsch geraten und wieder herausgekommen?
Schmidt: Er war Berufsrevolutionär, Jahrgang 1900 und schon bei der Münchner Räterepublik dabei und auch beim mitteldeutschen Aufstand. Er war im militärischen Apparat der KPD und hat in Berlin Kommandoaktionen durchgeführt. Er saß dann im Knast und wurde 1928 von Olga Benario, seiner damaligen Geliebten, befreit. Sie flohen gemeinsam nach Moskau. 1932 schickte ihn die Komintern als Militärberater nach China, wo er mit Bo Gu, dem damaligen Generalsekretär der KP, und Zhou Enlai an der Spitze der Roten Armee stand. Braun hat auch den Langen Marsch mitinitiiert, der zunächst eine Absetz- und Fluchtbewegung war, aus dem Gebiet im Süden Chinas, das die Kommunisten beherrschten. Auf dem Marsch wurde Braun von Mao zwar entmachtet, blieb aber bis zum Ende dabei. Das macht ihn zum einzigen Ausländer überhaupt, der den ganzen Langen Marsch mitgemacht hat, bis nach Yan’an. 1939 wurde er urplötzlich nach Moskau zurückberufen. Als Geheimnisträger durfte er erst 1954 nach Stalins Tod in die DDR ausreisen. Dort lebte er hauptsächlich als freier Übersetzer. Erst 1964 wurde ihm erlaubt, seine Identität und seine Funktion in China zu enthüllen. In China ist Braun als Li De – Li, der Deutsche – eine berühmte historische Figur. In Deutschland kennt den Mann mit der wilden Biografie fast keiner. Das wollen wir mit unserer Tour und dem Buch darüber ein bisschen ändern.
Häring: Gleichzeitig wollen wir natürlich auch zeigen, wie wichtig der Mythos des Langen Marsches für das heutige China immer noch ist und wie es heute dort aussieht, wo die Rote Armee langmarschierte. Es gibt dort viel Erinnerungskultur.
Was denn?
Schmidt: An Orten, an denen entscheidende Konferenzen oder größere Schlachten stattgefunden haben, sind riesige Museen errichtet worden. Historische Unterkünfte wurden restauriert. Wir haben jetzt schon mindestens, würde ich sagen, 15 Mao-Residenzen besichtigt und etwa genauso viele von Otto Braun. Überall sind Denkmäler errichtet worden. Wir sind sogar auf eine Freilichtbühne gestoßen, wo im Sommer eine Lange-Marsch-Schlacht nachgespielt wird, mit pyrotechnischen Effekten.
Häring: Das ist so eine Art roter Jakobsweg. Es gibt ja inzwischen auch einen so genannten »roten Tourismus«, der seit mindestens 2015 propagiert wird. Bereits in den Nullerjahren gab es die ersten Reiseführer, mit denen man diese revolutionären Orte besuchen kann. Was es noch nicht gibt, ist eine konsequente Linie in der ganzen Geschichte, es fehlt noch ein Corporate Design des Langen Marsches. Aber das entwickelt sich gerade.
Und die Straßen sind gut?
Häring: Zu 80 Prozent sehr gut, besser als in Deutschland, inklusive Radwege.
Warum soll man sich in China auf den Langen Marsch besinnen?
Häring: Man soll diese Entbehrungen würdigen und zeigen, dass man noch an etwas glaubt. Eine Einstellung, die im heutigen China der Jugend flöten gegangen ist. Der Geist und die Essenz des Langen Marsches sollen wiederbelebt werden, diesen Schlagworten kann man öfters begegnen.
Was waren Ihre Entbehrungen?
Häring: An einem Tag mussten wir rund 120 Kilometer fahren, weil wir uns plötzlich in einem Gebiet befanden, das offenbar aus militärischen Gründen gesperrt war. In den Bergen Guizhous fielen die Temperaturen auf fünf Grad, begleitet von starkem Dauerregen. Da mussten wir durch. Dann ist auch noch Christians Fahrrad kaputt gegangen, und es war erst einmal nicht klar, wie wir die nächste Kleinstadt erreichen konnten.
Schmidt: Aber das war bislang nur die Ouvertüre. Zu dem, was uns jetzt bevorsteht, lese ich mal etwas aus den »Chinesischen Aufzeichnungen« von Otto Braun vor: »Reißende Flüsse mussten durchfurtet, dichte Urwälder und trügerische Hochmoore durchquert, 4000 bis 5000 Meter hohe Gebirgspässe überwunden werden. Obwohl schon der Sommer begann, stiegen die Temperaturen kaum über zehn Grad. Nachts sanken sie fast auf den Gefrierpunkt Anfang Juni.« Wir werden auf diesen Pässen aber nicht im Juni sein, sondern schon Mitte April! Volker meint, der Klimawandel würde uns da entgegenkommen, aber da bin ich mir nicht so sicher. Und diese Gebirgspässe sind bestimmt nicht niedriger geworden! In solchen Höhen kann eigentlich nur der Yeti atmen. Ich hoffe sehr, dass wir uns an die dünne Luft irgendwie gewöhnen. Sonst war das heute mein letztes Interview.
Häring: Christian ist ja der Pessimist von uns. Der sieht ja schon immer alles schiefgegangen, bevor wir es überhaupt versucht haben. Und ich bin derjenige, der sagt, okay, das Einzige, was sich nicht lösen lässt, ist der Tod.
Wie viel Kilometer fahren Sie am Tag?
Schmidt: Minimal 30, maximal 110. Das liegt ja auch an den Akkus.
Also fahren Sie E-Bike?
Schmidt: Zum Glück. Ich habe darauf bestanden. Ich bin 67 Jahre alt, stehe mit einem Bein im Grab. Ursprünglich wollten wir mit normalen Fahrrädern fahren. Dann wäre ich jetzt schon über den Jangtse gegangen.
Häring: Wir fahren zwischen drei und sechs Stunden. Man braucht auf jeden Fall regelmäßig einen Ruhetag. Und zwar nicht nur für den Körper, sondern auch für den Geist. Es sind grandiose Landschaften und auch tolle Städte oder Dörfer, da kann man nicht einfach durchsausen, sondern muss das auch verarbeiten.
Schmidt: Wir stehen morgens um 6 Uhr auf, dann ungefähr um 10 Uhr gehts los und wir kommen so 16, 17 Uhr an. Volker guckt sich dann noch die Umgebung an vom Hotel. Ich liege anderthalb Stunden flach. Dann Abendessen, Tagebuch diktieren und Social Media. Jeden Tag haben wir jetzt auf der ersten Etappe ein Video hochgeladen, mit Text, dazu Fotos auf Insta. Um 23 Uhr ist dann Freizeit, das heißt, Matratzenhorchdienst bis morgens um 6 Uhr. Und in den Pausen unterwegs schreiben wir Postkarten.
Ich dachte, dieses Medium stirbt aus?
Schmidt: Ganz im Gegenteil, das ist wichtig für unsere Finanzierung. Jeder, der uns 20 Euro auf ein PayPal-Konto überweist, bekommt eine in limitierter Auflage gedruckte Lange-Marsch-Postkarte aus China, natürlich handgeschrieben. Mit schönen, raren Briefmarken, denn die sind tatsächlich nicht so einfach aufzutreiben, weil Briefmarken kaum noch benutzt werden in China. Auf den Postämtern sind sie rationiert.
Gibt es noch andere Einnahmequellen für Ihren Langen Marsch?
Schmidt: Wir haben einen Vorschuss vom Ullsteinverlag und einen Zuschuss der Rosa-Luxemburg-Stiftung, aber das reicht vorn und hinten nicht. Wir müssen jeden Tag drei Mahlzeiten und Übernachtung bezahlen.
Häring: Wir verkaufen auch T-Shirts und Tassen. Das T-Shirt kostet 40 Euro, die Tasse 30. Und dann müssen wir noch ein halbes Jahr das Buch schreiben.
Haben Sie auf Ihrer Tour bislang abgenommen?
Häring: Nein, auf dem Rad essen wir immer Snickers, das gibt es in China überall. Und wir trinken Cola, wegen des Zuckers, der ist wichtig. Beides würde ich in Deutschland nie zu mir nehmen.
Schmidt: Ah, das bringt mich gerade auf eine Idee: Volker, wir könnten uns doch an Mars Inc. wenden, den Hersteller von Snickers, damit sie uns als Sponsor Geld für die zweite Etappe geben? Vielleicht wären dann sogar Sauerstoffflaschen für die extremen Höhen drin?
Hier kann man den Langen Marsch der beiden Rad- und Chinasportler auf Youtube, auf Facebook und auf Instagram verfolgen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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