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»Öffentlichkeiten zwischen Fakt und Fiktion«: Radikal auserzählt
Der Sammelband »Öffentlichkeiten zwischen Fakt und Fiktion« geht auf Wahrheitssuche im Postfaktischen
Ein deutliches Zeichen der Krise der Gesellschaft als Ganzer sind die Superlative, mit denen ihr desolater Zustand verhandelt wird – allen voran derjenige ihres bürgerlichen Herzstücks: der Öffentlichkeit. Von Fake News, Verschwörungsdenken und populistischer Affektpolitik sei diese in ein »postfaktisches Zeitalter« übergegangen und in eine »Krise der Wahrheit« gedrängt, bis zur Erschütterung der Grundfesten der Demokratie. Die Krisensemantik ist dabei selbst schon Krisenphänomen. Denn: Was tun wir mit diesen alarmierenden und grundlegenden Diagnosen?
Die Antwort lautet meist: Nichts. Weder Klimawandel noch Faschismus oder mindestens der Zerfall der Demokratie werden angesichts deutlichster Drohungen angegangen. Diese Ohnmacht der Menschen sagt selbst etwas über den Zustand der Öffentlichkeit. Immerhin soll diese ja die zentrale Institution der Meinungs- und politischen Willensbildung sein, die in modernen westlichen Gesellschaften den Zwang der Autorität ersetzt. Es ist besorgniserregend, wenn Vernunft und Argument – so beschädigt diese auch immer schon gewesen sein mögen – der Willkür gefühlter Wahrheiten und instrumenteller Zurichtung weichen, sodass nur Apathie oder falsche Radikalisierung als Modi öffentlichen Austauschs verbleiben. Durchaus dringlich erscheint es daher, mit etwas Besonnenheit auf diesen Zusammenhang zu blicken, also darauf, wie sich unsere Gegenwart eigentlich zu der Produktion von Wissen über sich selbst verhält. Der Sammelband »Öffentlichkeiten zwischen Fakt und Fiktion« hat sich dies zur Aufgabe gemacht – dass er dabei ohne eine neue Gesamtformel der Krise und reißerische Gegenwartsdiagnose auskommt, ist ihm als allererstes zugute zu halten.
Modernes Wahrheitsproblem
Diese Stärke kommt zunächst als Bescheidenheit daher, wenn die Herausgeber*innen Steffi Hobuß, Simone Jung und Sven Kramer von »Stichproben und Tiefenbohrungen« sprechen, die sie in den Feldern Wissenschaft, Medien und Kunst »in Bezug auf das Verhältnis von Fakt und Fiktion in der Öffentlichkeit« vornehmen wollen. Das Vorhaben, das aus einer öffentlichen Vorlesungsreihe an der Leuphana Universität Lüneburg aus dem Jahre 2021 hervorging, ist gewollt experimentell und folgt daher keiner großen Erzählung der Gegenwartskrisen; diese werden eher zum Gegenstand jener Befragungen.
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Daher wird von den Herausgerber*innen festgehalten, dass sich die Grenze zwischen Fakt und Fiktion in einer komplexen und ausdifferenzierten Gesellschaft nicht ohne weiteres bestimmen lasse, jedenfalls nicht ohne eine Grundbedingung der Moderne zu hintergehen: die Abkehr von einer feststehenden Autorität. Der modernen Gesellschaft ist eine gewisse Krisenhaftigkeit bezüglich der Wahrheit daher eingeschrieben. Eine Rückkehr zu sicherer Objektivität sei eigentlich weder zu erwarten noch wünschenswert, ganz unabhängig davon, wie groß der politische Handlungsdruck durch falsche Realitätsbezüge und drohende Katastrophen auch ist.
Etwas von dieser konstitutiven Objektivitätskrise zeichnet der Technikphilosoph und Dramaturg Alfred Nordmann in seinem Beitrag dazu nach, »wie die Wissenschaft selbst zu einer Krise ihrer Vertrauenswürdigkeit beigetragen hat«. In einer zunehmend wissenschaftsskeptischen Öffentlichkeit tendiere die Wissenschaft umso mehr dazu, um Vertrauen zu werben, indem sie sich als verlässliche Technik darstelle – in der Form sogenannter Technowissenschaften. Diese Ausrichtung gehe zwar mit einem »Zugewinn an Phänomenkontrolle« einher, »bedeutet aber einen Verlust von Nachvollziehbarkeit«. Wer weiß schon noch, was hinter Geo-Engineering und KI-Entwicklung vor sich geht? Übrig bleibe nur eine Bewertung der Resultate und damit eine Art wissenschaftliche »Wiederverzauberung der Welt«: »Wir müssen an ihre Erfolge glauben, ohne sie verstehen zu dürfen«. Damit aber sei genau ein gesellschaftlicher Kontrollverlust verbunden, der dem (wissenschaftlichen) Aufklärungsideal entgegenstehe und somit jenes Unbehagen hervorbringe, dass sich als Wissenschaftsfeindlichkeit Bahn breche.
Alles relativ?
Auf ähnliche Weise beschäftigt sich die Soziologin Jenni Brichzin mit der viel beschworenen »Wahrheitskrise« im postfaktischen Zeitalter und der Frage danach, ob sich dem postmodernen Relativismus – genauer gesagt: Anti-Essenzialismus – eine »epistemische Verantwortung« daran zusprechen lasse. Regelmäßig tauche diese Diskursfigur auf: Der Relativismus bestimmter Ansätze verselbständige sich und führe letztlich dazu, dass überhaupt keine Unterscheidung zwischen richtig und falsch mehr zu treffen sei. Oder aber die dadurch bewirkte Politisierung der Wissensbestände münde in einen »ständigen Verdacht«, sodass jede Diskussion »zu politischer Positionierung und Kampf übergehen« müsse. Und schließlich könne Dekonstruktion in Destruktion kippen und daher auch in rechten Strategien Anwendung finden. Brichzin weist diese Kritiken zurück, ebenso wie die reine Affirmation der Dekonstruktion, allerdings aus einem recht idealistisch-abstrakten Grund: »Die eine ›wahre‹, endgültig richtige, vollständig ›gute‹ Denkweise gibt es nicht«. Sie plädiert stattdessen für ein »Denken entlang schmaler Grate«.
Im besten Fall bedeutet dies eine materialistische Rückbindung von Gedankenformen an die gesellschaftlichen Verhältnisse – oder eben doch nur einen weiteren Relativismus, der das grundlegende Dilemma wiederholt. Auch die Annahme, dass es keine Wahrheit gibt, bleibt eine Annahme, die sich rechtfertigen muss. In gewisser Weise verteidigt der Philosoph Wolfgang Welsch diese Position, wenn er die vorherrschende Idee, Fakes seien das Gegenteil der Wahrheit, philosophiegeschichtlich abklopft. Selbst bei Jean-François Lyotard, dem der Begriff der Postmoderne zugeschrieben wird, macht Welsch die Vorstellung ausfindig, dass gerade die Relativierung »der Schlüssel zur Wahrheit« sei. Denn, so das Argument, alles sei in bestimmten Weisen aufeinander bezogen und »wegen dieser generellen Relationalität ist alles relativ«.
Dem möchte man entgegnen, dass eben selbst eine solche Relationalität nicht als Prinzip vom Himmel fällt. Es handelt sich um einen gesellschaftlichen Zustand, der aufgeklärt und nicht idealistisch verklärt gehört. Wenn etwa die Herausgeberin Steffi Hobuß mit Wittgenstein das Bedürfnis nach einfachen Wahrheiten berechtigt zurückweist, bleibt ihr Fazit zahnlos: »Der Wunsch, Fakten und Fiktionen scharf und kontextabhängig voneinander zu trennen, führt in der Regel in eine Falle«. Die in diesen Beiträgen implizit geforderte Demut gegenüber dem Verlust aller Wahrheit dürfte selbst ihren Anteil an den regressiven Abwehrreaktionen von Verschwörungsglaube bis rechter Desinformation haben.
Das Auserzählte freikämpfen
Interessanter als jene wissenschaftlichen Probebohrungen sind die künstlerischen Beiträge des Bandes, allen voran der Essay der Schriftstellerin Kathrin Röggla »Das Auserzählte«. Denn sie bringt jenes Problem zum Ausdruck, in das sich auch der Band notwendigerweise verstrickt: Die öffentliche Reflexion über die Krise der Öffentlichkeit ist immer schon mit den gesellschaftlichen Verhältnissen verklammert, der Superlativ der Krisendiagnose hängt mit der Apathie und Ohnmacht zusammen. Den Verlust einer vorstellbaren oder gar gestaltbaren Zukunft erklärt sie als Effekt eines radikalen Präsentismus, einer »permanenten Gegenwärtigkeit des Jetzt Jetzt Jetzt«, »die sich gefräßig alle Zeit einverleibt«. Zwischen Livetickern, ewiger Wiederholung und Berechenbarkeit einer komplett warenförmigen Welt und der drohenden Katastrophe sei unsere Gegenwart und Zukunft bereits radikal auserzählt. Damit ist nicht nur die Überproduktion von Information gemeint, sondern auch jenes Gefühl, dass doch angesichts von selbstzerstörerischem Kapitalismus und Regression tatsächlich alles schon gesagt ist. Wir wissen es und sind doch ohnmächtig.
Röggla geht aber über diese Feststellung hinaus. In prosaischen Experimenten aus ihrem Roman über den NSU-Prozess oder einem Theaterstück über den Klimawandel zeigt sie ein konstellatives Verfahren an, »um das gesellschaftlich Auserzählte wieder freizukämpfen«. Und tatsächlich scheint diese Wette auf die künstlerische Möglichkeit, eine Erfahrung jenseits des Bestehenden zu machen, aufzugehen. Auch die Journalistin und Filmkritikerin Verena Lueken misst in ihrem Beitrag der Kunst jenes Potenzial zur Wahrheit zu. Die Fake News der »Trump’schen Erzählung von der Wiedergewinnung des Herzlands« konfrontiert sie mit dem Essayfilm »Nomadland«, der die Realität nomadischer Abgehängter in den USA zeige, dieser aber eine fiktive Figur hinzufüge. Im Gespräch der Herausgeber*innen mit dem Theater- und Filmemacher Milo Rau reflektiert dieser ebenfalls auf die Möglichkeit einer Begegnung mit dem Realen in der darstellenden Kunst – nicht als realistische Dokumentation, sondern als eine Erfahrung dessen, was sich der auserzählt-verwalteten Welt entzieht.
Was es angesichts dieser Befunde nun ehrlicherweise bräuchte: eine Gesellschaftstheorie, die über jene »Stichproben« hinaus den wirklichen Zusammenhang zwischen dem gesellschaftlichen Zustand und den Schwierigkeiten, diesen zu überwinden, erklären kann. Übrigens ist das ein über 150 Jahre altes Unterfangen, das mit seinen offenen Fragen und brachliegenden Baustellen alles andere als auserzählt ist.
Steffi Hobuß/Simone Jung/Sven Kramer (Hg.): Öffentlichkeiten zwischen Fakt und Fiktion. Zur Wissensproduktion in Wissenschaft, Medien, Künsten. Verbrecher-Verlag, 240 S., br., 24 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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