»Ich will eine andere Welt«

Die türkische Soziologin und Schriftstellerin Pinar Selek in Selbstzeugnissen

  • Stefan Berkholz
  • Lesedauer: 6 Min.

Das muss frau überleben! 25 Jahre von einer politischen Justiz der Türkei verfolgt zu werden, aus ihrer Heimat ins Exil getrieben, dort seit mittlerweile 15 Jahren im Wartestand zu verharren, nicht in Frieden gelassen zu werden – und trotzdem heiter, kämpferisch, tapfer zu bleiben. Eine radikale, revolutionäre Frau ist diese Pinar Selek, »die Unverschämte«, wie der armenische Journalist Hrant Dink sie einst nannte, ehe er 2007 von aufgeputschten Nationalisten in der Türkei ermordet wurde.

Pinar Selek, 1971 in Istanbul geboren, wuchs sehr privilegiert auf, wohlhabend, gebildet – und politisch links orientiert. Die Mutter: als Apothekerin eine Wohltäterin; der Vater: politischer Anwalt; der Großvater: ein Pionier der revolutionären Linken, Mitbegründer der Arbeiterpartei der Türkei (TIP), Abgeordneter der Nationalversammlung. Ein Elternhaus voller Liebe und voller Bücher, ein künstlerisches, literarisches, intellektuelles Milieu. Alles ist bereitet für ein Leben in Frieden, Freiheit und Wohlstand.

Über die Schriften von Karl Marx, Eugène Ionesco und Hannah Arendt begibt sich die Tochter ins Reich von Träumen und Visionen. »Ich wollte ein magisches Leben führen, wie in einem Märchen«, erinnert sie sich im Gespräch mit Guillaume Gamblin. »All diese Einflüsse vermischten sich in meinem Inneren: die Straßenkinder, die Weigerung, mich an der Barbarei zu beteiligen; das Bewusstsein von der Banalität des Bösen, aber auch davon, dass politische Wunder möglich sind; das Interesse an der Soziologie; die Lust zu schreiben und ein magisches Leben zu führen.«

Doch die Türkei ist kein demokratisches Land. Als das Militär 1980 putscht, ist Pinar Selek neun Jahre alt. Ihr Vater verschwindet für viereinhalb Jahre im Gefängnis, die Familie lebt in Angst und Schrecken. 1992 beginnt Selek ihr Soziologiestudium in Ankara, setzt es zwei Jahre später in Istanbul fort. Sie forscht zur Kurdenfrage – das wird ihr zum Verhängnis. Im Juli 1998 wird sie inhaftiert, landet im Gefängnis. Nichts Außergewöhnliches, denkt sie anfangs, »es ist in meinem Land zur Normalität geworden, eine Zeit lang im Gefängnis zu verbringen«. Sie soll die Namen ihrer kurdischen Gesprächspartner preisgeben. Sie wird verhört, eingeschüchtert, drangsaliert, gefoltert. »Ich war nackt«, sagt sie, »und so hat die Folter angefangen«.

Wozu menschliche Folterknechte fähig sind, erfahren wir aus diesen Erinnerungen in aller Drastik. An der Wand aufgehängt, »mit nach unten gefesselten Händen auf meinem Rücken. Alles krachte und zerbrach. Meine Wirbelsäule brach.« Bis heute plagen sie Gesundheitsprobleme, der Rücken, die Psyche, posttraumatische Ängste.

Die Folterknechte geben keine Ruhe. Weil sie nicht spricht, weil sie niemand verrät, greifen sie zum Mittel der Verleumdung. Einen Monat nach ihrer Verhaftung wird die falsche Anschuldigung in die Welt gesetzt, sie habe ein Attentat auf dem Gewürzmarkt von Istanbul begangen. Seitdem ist sie vogelfrei. Seit 25 Jahren ist sie der Willkür einer politischen Justiz in ihrer Heimat Türkei ausgesetzt. Ende Dezember 2000 kommt sie nach zweieinhalb Jahren aus dem Gefängnis frei, gegen Kaution. Seitdem folgt eine juristische Farce auf die nächste. Jeder Freispruch wird einkassiert, neue Anschuldigungen werden erhoben. Am 7. April 2009 flieht Selek aus ihrer Heimat, sie ist 38 Jahre alt. Ihr Exil beginnt. Heute lebt sie in Frankreich, vor den Nachstellungen türkischer Geheimdienste (noch) weitgehend sicher, seit September 2017 ist sie französische Staatsbürgerin.

Im März 2018 verfasst Pinar Selek einen öffentlichen Brief, in dem sie ihr Schicksal zusammenfasst. »Wenn der Oberste Gerichtshof meinen fünften Freispruch nicht bestätigt, dann gilt für mich die lebenslange Haft. Es wäre eine Verurteilung für ein Verbrechen, das es nicht gegeben hat, plus die Verurteilung zu einer Strafzahlung für die Schäden einer Explosion auf dem Istanbuler Gewürzmarkt. Meine neun Bücher, die in der Türkei noch immer regelmäßig wieder aufgelegt werden, und alles, was ich bis zum Alter von 38 Jahren publiziert habe, würde konfisziert werden. Noch wichtiger: Meine Familie wäre in Gefahr.« Sie beendet ihren Brief mit den Worten: »Ihr habt mein Leben gestohlen. Aber ich bin das Leben.«

Sie gibt nicht bei. Unermüdlich veröffentlicht sie weiter: Romane, Märchen, Gedichte, Erinnerungen. Wenig davon ist bisher auf Deutsch zu bekommen: »Zum Mann gehätschelt, zum Mann gedrillt« (2010), ihr Report über die Zerstörungskraft des Militärs; der Roman »Halbierte Hoffnungen« (2011); der Essay »Weil sie Armenier sind« (2015, neu aufgelegt 2023).

Sie promoviert 2014 in Politischer Wissenschaft und ist als Gastprofessorin tätig. »Das Exil bedeutet, mit Krücken voranzugehen, die ganze Zeit«, bekennt sie im Gesprächsband. »Heutzutage bewege ich mich besser, die Krücken sind nicht mehr nötig, ich habe einen Gehstock. Nizza ist eine Stadt an der Grenze und ich fühle mich gut zwischen den Grenzen.« In die Rolle eines Opfers will sie sich nicht drängen lassen, dafür ist sie zu klug, zu weitsichtig, zu kämpferisch. Es geht ihr um die Gesellschaftsverhältnisse – die Abhängigkeiten und Machtstrukturen will sie analysieren und durchdringen, daraus dann Strategien für eine Überwindung entwickeln.

»Wenn ich in der Stadt bin und mich umsehe, habe ich den Eindruck, dass alle Leute rennen, als wenn es ihnen befohlen worden wäre. Darin liegt der Zwang des Kapitalismus: Er zwingt nicht zum Gleichschritt wie in der diktatorischen oder militärischen Ordnung, aber er existiert als eine unsichtbare Ordnung, eine verinnerlichte Disziplin, die sich der ganzen Welt aufzwingt. Das Bildungssystem und die Universität lehren nicht, gegen das kapitalistische System zu kämpfen, sondern sie lehren das Rennen, um individuell am besten aus diesem schlimmen Wettkampf hervorzugehen.«

Der Verlag nennt Pinar Selek eine Soziologin, Schriftstellerin, antimilitaristische Aktivistin, Feministin und Anarchistin. Sie selbst sagt: »Ich bin antimilitaristisch, antirassistisch, antinationalistisch, ökologisch, antikapitalistisch, antiheterosexistisch … Wenn ich das alles vor meinen Feminismus stelle, wird das ein endloser Satz.« Der biografisch verfasste Gesprächsband wird ergänzt durch Zitate aus ihren Büchern und Aufsätzen. Ein verfolgtes, ein rebellisches, ein revolutionäres Leben bekommt Konturen. Der fesselnde Bericht von Pinar Selek, 2019 in Frankreich erstveröffentlicht ist nun ins Deutsche übertragen. Leider wimmelt es von Druckfehlern. Und das Inhaltsverzeichnis misslang, weshalb der Verlag nachträglich ein Korrekturverzeichnis an den Buchhandel schicken musste.

Die nächste Gerichtsverhandlung in der Türkei ist für Ende Juni angesetzt. Dann ist Pinar Selek 52 Jahre alt. »Was mich am Leben hält, das sind meine Überzeugung, meine Freiheitsliebe und meine Liebe zum Leben«, gibt sie sich selbstsicher. Und beinahe trotzig fügt sie hinzu: »Gleichzeitig bedaure ich nichts. Ich wollte kein anderes Leben für mich, ich will eine andere Welt! Diese Welt ist nicht normal. Der Wille, die Freiheit auf dieser Welt zu verwirklichen, setzt uns großem Leid aus. Vielleicht ist das eine Sünde, aber wenn ich es noch einmal machen müsste, würde ich genauso wieder sündigen.«

Guillaume Gamblin (Hg.): Die Unverschämte. Gespräche mit Pinar Selek. A. d. Franz. v. Lou Marin. Verlag Graswurzelrevolution, 228 S., br., 20,90 €.
Neu auf dem deutschen Buchmarkt auch ein Essay von Pinar Selek: Weil sie Armenier*innen sind. A. d. Franz. v. Dorothea Dieckmann. Orlanda, 100 S., geb., 15 €.

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