Der Himmel war vor lauter Qualm nicht mehr zu sehen

Die Todesspur der deutschen Faschisten im Osten – eine Dokumentation

  • Stefan Bollinger
  • Lesedauer: 5 Min.
Bereits kurz nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 wurden die ersten Dörfer niedergebrannt und Zivilisten ermordet.
Bereits kurz nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 wurden die ersten Dörfer niedergebrannt und Zivilisten ermordet.

Es kann nicht oft genug wiederholt werden: Krieg ist schrecklich, Völkermord unentschuldbar. Tod und Zerstörung, Opfer und Täter sind dem Vergessen zu entreißen. Die Erinnerung an das Verbrennen ganzer Dörfer, das Hinmorden und Auspressen ihrer Bewohner bleibt historische Last der Deutschen. Doch war diese Erinnerung hinsichtlich des Krieges im Osten getrübt. Die »saubere Wehrmacht« mochte nicht für solche Verbrechen haftbar gemacht werden, und in den überfallenen und okkupierten Gebieten war die Erinnerung teils durch das Verdrängen und Verschweigen der traurigen Tatsache überlagert, dass den deutschen Aggressoren Eroberungen im »Blitzkrieg« gelangen, so auch in der Sowjetunion.

Auf die Frage an heutige Deutsche, welche drei europäischen Länder ihrer Kenntnis nach am stärksten vom Eroberungs- und Vernichtungskrieg der Nazis betroffen waren, nannte nur ein Prozent der Befragten die Ukraine. Noch weniger, lediglich 0,1 Prozent, brachten das Ereignis mit Belarus in Verbindung; 36,3 Prozent gaben Russland an, 8,1 Prozent die gesamte Sowjetunion. Einzig Polen wurde von 60 Prozent der Probanden mit NS-Verbrechen verbunden.

Abgesehen von der leider nicht nachgefragten Herkunft, ob aus Ost- oder Westdeutschland stammend, verweist diese Umfrage auf die wachsende Geschichtsunkenntnis in der bundesdeutschen Gesellschaft. Unter dem Eindruck der Propagandaschlacht um den derzeitigen Ukraine-Krieg könnte sich das weiter verschlechtern. Aufgabe der Historiker ist es, immer wieder Geschichtserzählungen zu hinterfragen, die der Rechtfertigung von politischem Handeln dienen. So schrecklich und verurteilungswürdig heutige Verwüstungen und Verbrechen sind, das Wüten der deutschen Faschisten im Zweiten Weltkrieg darf nicht bagatellisiert, seiner Singularität nicht entkleidet werden.

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Frank Wieler, Frédéric Bonnesoeur und Mitautoren haben sich am Vorabend des Ukraine-Krieges an die Schauplätze, Schlachtfelder und Mordstätten der Nazis in Polen und der ehemaligen Sowjetunion begeben. Sie sprachen mit Überlebenden und deren Nachfahren, mit Wissenschaftlern und Gedenkstättenmitarbeitern. Unterstützt wurden sie dabei von dem in Berlin residierenden Verein Kontakte – Kontakty, dessen Vorstandsmitglied Bonnesoeur ist. Gemeinsam mit Historikern und Aktivisten haben sie in einstigen Sowjetrepubliken furchtbare Gräuel der Deutschen aufgedeckt und dokumentiert.

Entschädigung der Überlebenden durch die Bundesrepublik – 2500 Euro laut einem Bundestagsbeschluss von 2015 zumindest an einstige Kriegsgefangene – mag eine Genugtuung für die Betroffenen sein, bleibt für Deutschland jedoch beschämend. Es handelt sich um eine rein symbolische »Wiedergutmachung«. Mord und Elend sind nicht wiedergutzumachen, erst recht nicht nach einem Dreivierteljahrhundert.

In Polen wie in Lettland, Belarus, der Ukraine und in Russland sind die Wunden noch nicht verheilt. Die Autoren schenken den Lesern nichts, gehen ins Detail. Sie befassen sich mit der völkerrechtswidrigen Angliederung von Ciechanów nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf Polen als Regierungsbezirk Zichenau an Preußen, berichten vom mörderischen Hungerwinter 1941/42 im Oblast Charkiw und rekapitulieren die Auslöschung des lettischen Dorfes Audrini. Im Fokus ihrer Forschung und Dokumentation steht das Schicksal der Menschen auf dem flachen Land, das metaphorisch unter dem Signum »Verbrannte Dörfer« erscheint. »Alles brannte, der Himmel war vor lauter Qualm nicht mehr zu sehen«, wird ein Zeitzeuge zitiert.

Die Autoren lassen keine Opfergruppe aus. Erinnert wird an Patienten in psychiatrischen Anstalten, die sich als Mordstätten erwiesen, an den unmenschlichen Umgang mit Kriegsgefangenen, an die Massaker an Juden sowie Sinti und Roma, die standrechtlichen Exekutionen von Partisanen und deren oft nur vermeintlichen Helfern. In kaum vorstellbaren Größenordnungen wurden Bürger Polens und der besetzten Gebiete der Sowjetunion ermordet und dem Hungertod preisgegeben, als »unnütze Esser«, als »minderwertige Rasse«.

Die Besetzten sahen sich Besatzern gegenüber, »die über die entscheidenden Machtmittel verfügten und die diese ohne Rücksichtnahme auf die einheimische Zivilbevölkerung einsetzten«, heißt es hier. Schätzungen zufolge waren 36,5 Millionen Tote aufgrund direkter Kriegseinwirkungen zu beklagen. Mehr als die Hälfte dieser Menschen, mindestens 19 Millionen, waren Zivilisten und Zivilistinnen, darunter 6 Millionen Juden und Jüdinnen, wie die Autoren festhalten. »Besonders die hohe Zahl der zivilen Opfer ist bemerkenswert. Sie übersteigt nicht nur in der ehemaligen Sowjetunion, Polen, Ex-Jugoslawien, Ungarn und Griechenland, sondern auch in Frankreich, den Niederlanden, Belgien und Norwegen die Zahl der militärischen Opfer.«

Die Darstellungen sind differenziert, klagen die deutschen Faschisten ebenso an wie Kollaborateure, die sich an der Verfolgung und Ermordung von Juden, Rotarmisten sowie sowjetischen Partei- und Staatsfunktionären aktiv beteiligten. Es wird die Komplexität des Geschehens deutlich, wozu auch anfängliche Hoffnungen mancher Landbewohner auf ein Ende der Sowjetmacht und Auflösung der Kolchosen durch die neuen Machthaber gehörten. »Die hohe Zahl von Opfern zeigt die Alltäglichkeit von Gewalt, sollte aber nicht den Blick darauf verstellen, dass die deutsche physische und regulatorische Präsenz vor allem auch dazu führte, dass Einheimische den Besatzern häufig nicht aus dem Weg gehen und Interaktionen mit ihnen nicht vermeiden konnten.« Zu den Überlebensstrategien gehörten Opportunismus und Kollaboration.

Leider entspricht die Negation des in den sowjetischen Territorien von den Eroberern angetroffenen und zerstörten tatsächlichen und nicht vermeintlichen sozialpolitisch wie wirtschaftlich fortschrittlichen und gerechten Gesellschaftssystems heutigen Sichtweisen der postsozialistisch-kapitalistischen Eliten in den untersuchten Regionen. Es wäre spannend gewesen, nach eventuellen Unterschieden in der Okkupationspolitik, bei Verfolgung und Widerstand im bis zum Überfall kapitalistischen Polen, in den gemäß dem Geheimen Zusatzprotokoll des sogenannten Hitler-Stalin-Paktes an die Sowjetunion angegliederten baltischen Staaten sowie in den Sowjetrepubliken zu fragen.

Woraus speiste sich etwa der opferreiche Widerstand der Partisaneneinheiten insbesondere in der Ukraine und in Belarus gegen die Eindringlinge, deren Verteidigung des Vaterlandes, der Sowjetunion, trotz aller möglichen Konflikte der dort lebenden Bevölkerung mit der Zentralmacht in Moskau? Der Forschung bleiben also noch viele Fragen, die zu klären sind.

Verbrannte Dörfer. Nationalsozialistische Verbrechen an der ländlichen Bevölkerung in Polen und der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Hg. v. Florian Wieler u. Frédéric Bonnesoeur unter Mitarbeit v. Sibylle Suchan-Floß. Metropol, 361 S., geb., 29 €.

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