Kindergrundsicherung: »Eine Frage des politischen Willens«

Judith Ranftler vom Sozialverband Volkshilfe über die Kindergrundsicherung und ihr Scheitern auf beiden Seiten der deutsch-österreichischen Grenze

Kinderarmut – Kindergrundsicherung: »Eine Frage des politischen Willens«

Diese Woche besucht der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Österreich, um sich zur Kindergrundsicherung inspirieren zu lassen. Warum eigentlich, in Österreich gibt es die Maßnahme doch auch nicht?

Wir haben in Österreich auch keine Kindergrundsicherung, das stimmt. Bei der Volkshilfe haben wir aber schon 2019 ein Forschungsprojekt dazu initiiert und unser Modell zwei Jahre lang ausprobiert – erstmals in Europa. Die Ergebnisse stimmen uns zuversichtlich im Hinblick darauf, was die Kindergrundsicherung für Auswirkungen auf betroffene Familien haben kann.

Wie sieht das konkret aus?

Das Modell orientiert sich daran, welche Summe Kindern eine volle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht. Das betrifft die Bereiche Bildung, Gesundheit, soziale Teilhabe und materielle Absicherung. Wir gehen davon aus, dass ein Kind 872 Euro pro Monat braucht, um alles abzudecken. Der Betrag orientiert sich an Zahlen der Schuldnerberatung.

Interview

Judith Ranftler, Leiterin des Bereichs Kinderarmut der Volkshilfe Österreich, initiierte bereits 2019 ein Forschungsprojekt zur Kindergrundsicherung.

Hierzulande soll sich die Kindergrundsicherung aus zwei Teilen zusammensetzen: einem fixen Kindergarantiebetrag und einem flexiblen Kinderzusatzbetrag.

Unser Modell beinhaltet drei Komponenten. Bestehende Familienleistungen sollen in einem Betrag gebündelt werden, der allen Kindern zur Verfügung steht. Der dazugehörige Grundbetrag muss deutlich erhöht werden, weil er seit ungefähr 20 Jahren nicht mehr angepasst wurde. Weiter würden wir einen einkommensbezogenen Betrag für Kinder in Haushalten mit wenig Einkommen einführen. Außerdem gehören zu unserem Modell Investitionen in Infrastrukturleistungen, die für Kinder und Jugendliche relevant sind. Darunter Schulen oder Jugendzentren.

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Wie viel würde die Kindergrundsicherung den österreichischen Staat kosten?

Wir veranschlagen rund 4,5 Milliarden Euro für ein Jahr, sprechen allerdings bewusst von Investitionen und nicht von Kosten. Langfristig spart sich der österreichische Staat mit der Kindergrundsicherung viel Geld. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung geht momentan davon aus, dass Österreich aufgrund der fehlenden Maßnahmen gegen Kinderarmut 17 Milliarden Euro pro Jahr ausgibt. Denn Armutsbetroffene haben niedrigere Schulabschlüsse und dadurch ein geringeres Einkommen, was wiederum die Pensionen (Renten, Anm. d. Red.) beeinflusst. Armutsbetroffene werden auch häufiger krank, das erzeugt Folgekosten für das Gesundheitssystem.

Die Ampel veranschlagt momentan 7,5 Milliarden Euro – für die nahezu zehnfache Bevölkerung. In beiden Ländern ist mehr als jedes fünfte Kind armutsgefährdet.

Mit dieser Summe wird man Kinderarmut nicht wesentlich verringern können.

Wir sprechen hier von hohen Beträgen. Haben Sie in Ihrem Konzept ausgearbeitet, wie die Kindergrundsicherung finanziert werden soll?

Wir fordern die Erhöhung vermögensbezogener Steuern. Es geht hier aber weniger um die Frage der Finanzierbarkeit. Das ist alles eine Frage des politischen Willens.

Gib es diesen politischen Willen in Österreich? Die Bekämpfung von Kinderarmut haben sich ja, so wie in Deutschland, die Grünen in der Regierung auf die Fahnen geschrieben.

Eigentlich steht sogar ein viel größeres Thema im Programm: Die Bundesregierung aus ÖVP und Grünen hat sich vorgenommen, Armut in Österreich zu halbieren. Nachdem die Legislaturperiode bald ausläuft, ist nicht damit zu rechnen. Natürlich war das von Anfang an ein hochgestecktes Ziel. Unserer Meinung nach hat die Bundesregierung aber nur in sehr wenigen Bereichen versucht, dieses zu erreichen. Der grüne Sozialminister steht hinter der Kindergrundsicherung, macht aber gleichzeitig deutlich, dass eine Umsetzung in der Regierung mit der konservativen ÖVP nicht möglich ist. In Österreich wird im Herbst gewählt. Wir sind hoffnungsfroh, dass die nächste Regierung progressiver an die Sache herangeht. Mit Blick auf die Wahlprognosen ist das aber unwahrscheinlich.

Eine Grundkritik an der deutschen Reform ist, dass es künftig schwer prüfbar sein könnte, ob das Geld tatsächlich von den Eltern an die Kinder fließt. Gibt es dafür eine Lösung?

Natürlich gibt es Familien, die aufgrund von Erkrankungen nicht in der Lage sind, ihre Kinder ausreichend zu versorgen. Strukturen, die sie unterstützen und kontrollieren, gibt es aber bereits. Das sind in Österreich die Kinder- und Jugendhilfe, Sozialhilfeabteilungen und diverse Beratungsstellen. Generell wissen wir sehr viel über die finanziellen Verhältnisse armutsbetroffener Haushalte. Auch jetzt wird bereits schnell eingegriffen, wenn Sozialhilfen nicht in die dafür bestimmten Bereiche fließen. Energiekosten oder Wohnkosten werden dann zum Beispiel direkt von der Sozialhilfe bezahlt. Die Kontrolle dieser Familien hat bereits ein bedenkliches Ausmaß.

Welche Tipps geben Sie dem deutschen Ausschuss für die Umsetzung der Kindergrundsicherung?

Das Ziel der Bekämpfung von Kinderarmut ist gegenüber den Herausforderungen in der Umsetzung und der bürokratischen Abwicklung in den Hintergrund geraten. Das ist schade, denn eine so große Reform kann nur bestehen, wenn das Ziel verlockend genug ist. Ich würde den deutschen Politikerinnen und Politikern raten, dorthin zu schauen, wo die Maßnahmen ankommen. Beispiele aus unserem Forschungsprojekt könnten motivieren. So hat uns ein Jugendlicher erzählt, er würde jetzt wieder mehr lachen. Eine Mutter hat berichtet, wie erleichtert sie war, einmal ohne Sorgen einkaufen zu können. Wenn die Politik sieht, wie sich das Leben vieler Menschen durch diese Reform verbessern könnte, erscheinen die Hürden vielleicht geringer.

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