Wer schützt wen?

Bundesstiftung Aufarbeitung lud zur Debatte über die Verfassung der Bundesrepublik

Kein Anschluss unter dieser Nummer» und dahinter die Zahl 23 war im Frühjahr/Sommer 1990 auf Plakaten und Transparenten zu lesen und auf Kundgebungen von Rostock bis Suhl zu hören. Und doch erfolgte am 3. Oktober des Jahres der «Beitritt» der DDR zur Bundesrepublik gemäß eben dieses Paragrafen des Grundgesetzes. So gewollt von fast 90 Prozent der Westdeutschen, aber auch über 80 Prozent der Ostdeutschen, wie Astrid Lorenz von der Leipziger Universität wissen ließ.

Anlässlich des 75. Jahrestages des Grundgesetzes (GG) lud die Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur zur Debatte: «In guter Verfassung?»

Den Auftakt gab Martin Sabrow, langjähriger Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam. Dem Geschichtsprofessor oblag historischer Exkurs und Vergleich. Das Grundgesetz gelte als eine kluge Antwort auf die Schwäche der Weimarer Reichsverfassung, etwa mit der Einführung der Fünf-Prozent-Klausel, der Brechung der Allmacht des Staatsoberhauptes und der Zurückdrängung plebiszitärer Elemente (obwohl der Volksentscheid gegen die Fürstenabfindung 1926 und das Volksbegehren gegen den Panzerkreuzerbau zwei Jahre später wahrlich nicht für das Ende der ersten deutschen Demokratie verantwortlich waren). Als Lehre aus deutscher Geschichte nannte Sabrow ebeso das im Grundgesetz verankerte Widerstandsrecht und die Installierung eines Bundesverfassungsgerichts, dem eine größere Rolle als dem Staatsgerichtshof der Weimarer Republik zukomme.

Das Grundgesetz sei trotzdem kein Gegenmodel zur Weimarer Reichsverfassung, die ebenfalls Volkssouveränität und Sozialstaatlichkeit kannte, perfektionierte diese aber. Man könne von einer «strukturellen Homogenität» sprechen, konstatierte der Geschichtsprofessor, dem es wichtig war zu betonen: «Weimar ist nicht gescheitert, sondern wurde zerstört, und dies nicht durch anonyme Mächte.»

Bei der Geburt des Grundgesetzes standen die westlichen Besatzungsmächte Pate, die sehr wohl die ernsthafte Konkurrenz der seinerzeit in der sowjetischen Besatzungszone initiierten Volkskongressbewegung für eine gesamtdeutsche Verfassung erkannt hatten. Die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung zeigte 1948/49 wenig Interesse an der Arbeit des Parlamentarischen Rates, war mit Existenzsorgen beschäftigt. Lobend erwähnte Sabrow die Ausweitung des Grundrechtsschutzes im GG auf kommende Generationen.

Diese Ewigkeitsklausel in Artikel 79 sieht der Jurist Christoph Möllers indes quasi im Widerspruch zu Artikel 146, nach dem das GG seine Gültigkeit an dem Tage verliert, «an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist». Der Lehrstuhlinhaber für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität zu Berlin sprach von einem «Paradoxon». Und stellte Fragen: Ist das Grundgesetz bedroht? Schützt es die Bürger oder müssen die Bürger es schützen? Was heißt wehrhafte Demokratie? Warum werden 75 Jahre Grundgesetz gefeiert und nicht 75 Jahre Gründung der Bundesrepublik?

Die Verfassung soll die Bürger vor Übergriffen der Politik bewahren, ist aber ein Dokument, das von Politikern verfasst wurde, um Politik zu ermöglichen, ergo sich selbst verwirklichen zu können. Hinsichtlich des Verfassungsschutzes, «der nicht gleich Stasi ist, aber auch eine lange Geschichte der Schnüffelei aufweist», dränge sich der Eindruck von Übergriffigkeit auf. Möllers überraschte sodann mit der Bemerkung: «Um es mal marxistisch zu formulieren: Wir haben hier ein Basis-Überbau-Problem.» Der Verfassungsrechtler wies auf mittlerweile 70 Änderungen im GG hin und ergänzte, dass einer empirischen Studie zufolge Verfassungen im Schnitt nur 19 Jahre alt werden und generell nicht «so kleinteilig» seien wie die der Bundesrepublik. Um offenbar nicht missverstanden zu werden, beteuerte er aber auch: «Ich mag das Grundgesetz, es ist eine tolle Verfassung.»

Toll hätte Astrid Lorenz von der Alma mater lipsiensis gefunden, wenn ostdeutsche Erfahrungen in die Verfassung der Bundesrepublik eingeflossen wären. Sie erinnerte an den Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches im letzten Jahr der DDR, der «von unten», maßgeblich von der Bürgerrechtsbewegung getragen war und plebiszitären Elementen sowie dem Parlament eine größere Bedeutung als der Regierung beimaß. Doch dieser war nicht gewollt, nicht von der letzten Volkskammer, nicht von westdeutschen Politikern. Wolfgang Schäuble behauptete damals, ein 16-Millionen-Volk könne nicht die gleiche Stimme haben wie 60 Millionen: «Ich bitte Sie, meine Damen und Herren ...»

Einzig die Brandenburger Landesverfassung, so Astrid Lorenz, habe den Spirit von ’89 aufgeommen und Lehren aus der DDR kodifiziert. Sie ginge weit über das Grundgesetz hinaus mit der Würde des Menschen auch im Sterben, Verbot wissenschaftlicher Versuche an Menschen, die Anerkennung der Schutzbedürftigkeit nichtehelicher Beziehungen, Mitspracherecht von Umweltverbänden sowie dem Recht auf Arbeit und Wohnung.

In der Haltung der Deutschen heute zum Grundgesetz registriert Astrid Lorenz eine Diskrepanz zwischen Feierlaune und Skepsis. Die Ausarbeitung einer neuen Verfassung hält die Politologin in der heutigen politisch-fragilen Situation, ob rechtspopulistischer und rechtsradikaler Herausforderungen für problematisch.

Interessant war noch ein Intervention aus dem Publikum. Pfarrer und SDP-Gründungsmitglied Konrad Elmer-Herzig, Anfang der 90er Jahre Mitglied der gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, artikulierte seine Ettäuschung darüber, dass deren Arbeit schnöde missachtet worden sei und seine Empfehlung, Artikel 2 des Grundgesetzes um die Formel zu bereichern «Jeder ist zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aufgerufen, keinen Anklang gefunden habe. Er zitierte soann den Bonner Strafrechtler Josef Isensee, der damals urteilte: »Wir sind noch einmal mit blauem Auge davongekommen.«

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