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Diesseits der Brandmauer
Die Kommunalpolitik im thüringischen Ilmkreis gleicht der Landespolitik: Rot-Rot-Grün unter Druck und eine Landrätin, die ihre Wiederwahl anstrebt
Wenn man mit Frank Kuschel durch Arnstadt geht, hat man den Eindruck, dass er jeden kennt. Er kann allerhand über die Honoratioren der Stadt erzählen, an jeder zweiten Ecke fallen ihm Anekdoten ein. Hätte er nichts zu tun, er würde einen famosen Stadtführer abgeben.
Aber Kuschel hat zu tun, und zwar mehr als genug. Er gehört zu den Gesellschaftern eines Verlages, der von kommunalpolitischen Schriften über Krimis bis Heimatgeschichte alles Mögliche herausgibt. Weil er sich bestens in Kommunalfinanzen und -gesetzgebung auskennt, wird er oft um Rat gebeten, den er auch dann gern erteilt, wenn niemand direkt danach gefragt hat. Er erzählt von den großen Industrieansiedlungen im Kreis, im Speckgürtel der Landeshauptstadt Erfurt, darunter Zulieferer für den Autobau, von den Tausenden täglichen Pendlern dorthin. Davon, dass einerseits viele Wohnungen fehlen, andererseits die meisten Pendler auch deshalb mit einem Umzug zögern, weil niemand weiß, wie lange der Boom anhält. Die Leute haben hier den Niedergang großer Solarfirmen nicht vergessen.
Solche Dinge kennt Kuschel im Detail, denn er ist Vorsitzender der größten Fraktion im Kreistag. Sie ist eine Rarität: In ihr sind die Abgeordneten von Linkspartei, der Kuschel angehört, SPD und Grünen vereint. Durch die Fusion sind die einzelnen Parteien besser in den Ausschüssen des Kreistags vertreten. Weil die Fraktion »linkegrünespd«, wie sie sich nennt, aber keine Mehrheit hat, müssen sie und die parteilose Landrätin, die sie unterstützt, sich über alles mit CDU und Freien Wählern einigen, die ihrerseits offen mit der AfD-Option taktieren. »Natürlich arbeiten CDU und AfD zusammen«, sagt der Grüne Matthias Schlegel. »Eine Brandmauer gibt es hier nicht.« Man liegt nicht falsch, wenn man im Ilmkreis genau das erkennt, was sich seit fünf Jahren auch in der Thüringer Landespolitik mit der rot-rot-grünen Minderheitsregierung abspielt.
Die Kreischefin von Arnstadt heißt Petra Enders. Wie der Ministerpräsident Bodo Ramelow ist die Landrätin bekennende Christin; in ihrem Büro steht die Prachtausgabe einer Bibel, die ihr mal jemand geschenkt hat. Enders ist seit 2012 im Amt. Am 26. Mai, wenn in Thüringen Kommunalwahlen stattfinden, will sie es zum dritten Mal wissen. Kuschel zitiert eine Umfrage des MDR, der zufolge sich mehr als die Hälfte der Wähler bei der Entscheidung an der Landespolitik orientieren. Wenn das stimmt, könnte es für Rot-Rot-Grün im Kreis hart werden, und damit auch für die Landrätin. Denn selbst wenn sie es wieder schafft, steht ihr womöglich ein gestärkter rechter Block gegenüber. Dann wird es eng diesseits der Brandmauer.
Dabei konnte sie einiges durchsetzen. Sie erzählt es mit einer Emphase, die eine Vorstellung davon vermittelt, welche Auseinandersetzungen damit verbunden waren. In der vorletzten Wahlperiode, als Linke, SPD und Grüne eine Mehrheit im Kreistag hatten – wie auch auf Landesebene –, überführten sie die Abfallwirtschaft komplett in kommunales Eigentum, ebenso den öffentlichen Nahverkehr. CDU, Freie Wähler und AfD leisteten erbitterten Widerstand; man wolle nicht schon wieder Sozialismus, hieß es. Aber, sagt Enders, weil die kommunale Entsorgungswirtschaft nun keine Gewinne mehr ausschütten muss, konnten sie die Müllgebühren stabil halten.
Doch der Spielraum für progressive Politik schrumpfte 2019 spürbar. Als Rot-Rot-Grün bei der letzten Kommunalwahl die Mehrheit verlor, wusste Kuschel: »Jetzt kommen fünf Jahre Abwehrkampf.« Es gab ein Jahr, da brauchten sie für den Haushalt des Kreises vier Anläufe.
Enders und Kuschel kennen sich seit Jahrzehnten. Er war einer ihrer Vorgänger als Bürgermeister der Kleinstadt Großbreitenbach, gemeinsam saßen sie in der Linke-Landtagsfraktion in Erfurt. Kuschel ist der klassische Parteiarbeiter, schon seit DDR-Zeiten, Enders kam in den 90er Jahren in politische Zusammenhänge. Weil ab 1990 auch in Enders’ Heimatregion viele Frauen arbeitslos geworden waren, gründete sie eine Frauengruppe. Dort überlegten sie, welche Arbeitsplätze gebraucht würden. Im Januar 1993 startete das erste Beschäftigungsprojekt, aus geförderten Jobs wurden feste Arbeitsplätze zum Beispiel in der Pflege und in der Kinder- und Jugendarbeit. Später entstand eine Wählergemeinschaft; die war Enders’ Sprungbrett in die Politik. Das erklärt, warum sie an der Idee von mehr Bürgerbeteiligung hängt: »Das ist eine Möglichkeit, die Parteien einzunorden.« Vielleicht ist es auch eine Strategie für die Arbeit mit einem Kreisparlament, dessen Mehrheit ihr nicht zuneigt.
Denn der Druck von rechts wächst – für den Landratsposten gehen neben Enders ein Kandidat der CDU und zwei ehemalige AfD-Mitglieder ins Rennen. Am Markttag steht ein Mann, den manche Reichsbürger nennen, mit einer wilden Plakatsammlung im Stadtzentrum, darunter: »Nie wieder Faschismus – auch keinen rot-grünen«. Und Die Linke hat mit der Wagenknecht-Abspaltung zu kämpfen. Auch gehören Gerhard Pein und Ulf Kümmerling nicht mehr zur Linken. Beide sind Urgesteine der Kommunalpolitik und wollten mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht noch mal durchstarten. Der entscheidende Punkt, so Kümmerling, war die Haltung zum Ukraine-Krieg: Das Narrativ von Putins Aggression wiege bei der Linken alles auf. Nach Wagenknechts Vorbild wollten sie in Arnstadt eine Friedensdemo organisieren, sagt Pein, der 1999 wegen des Jugoslawien-Kriegs die SPD verlassen hatte. Aber Die Linke habe sich zurückgehalten, »am Ende stand ich allein vor 350 Leuten«. Und das ist ja nicht alles, was sie an der Linken stört. Kümmerling ärgert sich immer noch über die überzogenen Hygienemaßnahmen bei Parteiveranstaltungen in der Coronazeit und über das »Variantengedöns«. Für Pein hat das neue Selbstbestimmungsrecht mit linker Politik nichts zu tun, sondern erinnere ihn »an den Zwickelerlass« aus den 30er Jahren, der seinerzeit die Bademode regeln sollte. Pein ist Rechtsanwalt; man merkt, dass er es gewohnt ist, vor Publikum zu sprechen und Eindruck zu machen.
Gern wären sie mit einer BSW-Liste bei der Kommunalwahl angetreten, waren sich auch sicher, genügend Unterschriften und Kandidaten zusammenzubekommen. Aber bisher wurden sie nicht als Parteimitglieder aufgenommen. Für die extrem restriktive Aufnahmepraxis des BSW haben sie kein Verständnis. »Da läuft was schief zum Schaden der Partei«, meint Kümmerling und fühlt sich gedemütigt. Pein hält es für einen »prinzipiellen Fehler des BSW, Menschen mit Enthusiasmus zu enttäuschen«. Dabei hat er sogar eine Vision von der Partei, der er gerne angehören würde: Sie müsse »die demokratische Tradition der Sozialdemokraten mit der kämpferischen Haltung der Kommunisten verbinden«.
Auch um Landrätin Enders gab es mal ein BSW-Gerücht. Die neue Partei ging ja überall auf die Suche nach bekannten Namen. Auch bei ihr? Die Landrätin schweigt und lächelt. Sie lächelt lange. Dann sagt sie: »Ich finde in dem Gründungsmanifest des BSW nichts, was ich nicht mittragen könnte.« Auch nicht in der Migrationsfrage beispielsweise? Auch dort nicht, sagt sie. Aber: »Ich möchte etwas für die Menschen im Kreis erreichen und habe mich entschieden, als Parteilose anzutreten.«
Unterstützt wird sie dabei vor allem von Linkspartei und SPD. Die Sozialdemokratin Eleonore Mühlbauer erzählt von einer gleichberechtigten Zusammenarbeit in der Fraktion. Zuweilen sei in den Medien das Bild einer Einheitsfraktion gemalt worden; es gebe in der SPD Leute, die meinen, dass in einer zu engen Kooperation das eigene Profil verloren gehe. Aber, sagt Mühlbauer, die drei Parteien hätten nicht selten unterschiedlich abgestimmt.
Der Grüne Matthias Schlegel findet, dass Rot-Rot-Grün sehr gut funktioniert hat, im Kreis wie im Land. »Ich würde es wieder machen.« Auch wenn er »eine gewisse Entfremdung« bei der Landrätin beobachtet, die mal eine Bürgerenergie-Genossenschaft mitgegründet habe und sich nun gegen den Ausbau der Windkraft wende. Schlegel nennt das populistisch. Was ihm mehr zu denken gibt, ist das aggressiver werdende politische Klima. Wer im Kreistag über den Klimawandel spricht, werde von der AfD verhöhnt, »und die CDU macht da mit, die überschreitet laufend Grenzen«. Auch im Alltag bemerkt er den Stimmungswandel, wenn im Gespräch Sätze fallen, die mit »Wenn wir erst mal was zu sagen haben« beginnen und nicht freundlich enden. Schlegel spricht von »verhetzten Leuten« und von Herrenmenschendenken.
Die Öffentlichkeit schaut im Ilmkreis vor allem auf einen Zweikampf um das Landratsamt. Denn Petra Enders wird von einem ehemaligen Spitzensportler herausgefordert. André Lange ist mehrfacher Bob-Olympiasieger. Die Eisrinne hinunterrasen kann er, die teils verschlungenen Pfade der Kommunalpolitik kennt er noch nicht. Dennoch schickt die CDU ihn ins Rennen. Zwei Siegertypen treffen aufeinander: Die eine gewann in Großbreitenbach und Arnstadt, wann immer sie kandidierte. Der andere gewann in Calgary und Lake Placid, Turin und Vancoucer. Die eine hat allerhand Pläne, will dem preiswerten Seniorenticket eines für Kinder und Jugendliche folgen lassen, die Energieversorgung im Kreis kommunal organisieren und endlich eine lange geplante Schulsporthalle bauen. Der andere will erst mal Bürger nach ihren Wünschen fragen und daraus ein Programm machen. Das findet die Sozialdemokratin Mühlbauer befremdlich. »Dass ein Kandidat keine Vorstellung davon hat, ob er die Daseinsvorsorge privat oder kommunal organisieren will, das geht doch nicht«, sagt sie.
In Arnstadt lacht die politische Konkurrenz immer noch über Langes Versuch, mithilfe des Freie-Wähler-Chefs Hubert Aiwanger Punkte zu machen. Ein großer Saal war gemietet, gekommen sind laut Medienberichten etwa 40 Leute. Politisch unbedarft, urteilte danach eine Lokalzeitung über den Bobfahrer. Auf Wahlplakaten hält er seine Goldmedaillen hoch, als wären sie ein Kompetenzbeweis.
Arbeit, Wohnen, Migration, Bürgergeld – das seien die Themen, zu denen die Menschen Antworten haben wollen, sagt der Linke Kuschel. Ein Mann, der sich am Markttag als CDU-Mitglied zu erkennen gibt, verrät, er wähle diejenigen, »die gezeigt haben, dass sie ihre Sache gut machen«. Und das seien für ihn Arnstadts Bürgermeister, den die CDU unterstützt, die linke Landrätin und im Land Bodo Ramelow. »Auch wenn ich dafür Die Linke ankreuzen muss.« Was seine Parteifreunde dazu sagen? »Da müssen die durch.«
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