Vegane Ernährung bei Kindern: Nährstoffe unbedingt ergänzen

Der Kinder- und Jugendarzt Berthold Koletzko zu Risiken einer veganen Ernährung für die Jüngsten

  • Interview: Angela Stoll
  • Lesedauer: 6 Min.
Auch ein Vorteil veganer Ernährung: mit Tomatennudeln wäre das nicht so lustig.
Auch ein Vorteil veganer Ernährung: mit Tomatennudeln wäre das nicht so lustig.

Derzeit wird heftig darüber diskutiert, ob Kinder gefahrlos vegan ernährt werden können. Was meinen Sie?

Die vegane Ernährung führt zu Nährstoffdefiziten, wenn man nicht zusätzlich supplementiert – also Nahrungsergänzungsmittel zu sich nimmt. Bei Kindern ist die Gefahr solcher Mangelzustände besonders groß, da sie sich im Wachstum befinden. Vegane Ernährung enthält kein Vitamin B12, was für die Blutbildung und die Funktion des Nervensystems essenziell ist. Auch bei anderen Nährstoffen ist das Risiko für Defizite erhöht, zum Beispiel bei der langkettigen Omega-Drei-Fettsäure DHA, Kalzium, Eisen, Zink und Jod. Eine gemischt vegetarische Ernährung ist weniger problematisch, aber auch da gibt es bestimmte Dinge, auf die man achten muss. Wir Kinder- und Jugendärzte halten eine flexitarische Ernährung, bei der viele pflanzliche Lebensmittel, aber ab und zu Fisch oder auch Fleisch gegessen wird, für am besten.

Interview

Berthold Koletzko, Jahrgang 1954, ist Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Kindergesundheit. Er forscht seit Jahrzehnten zur frühkindlichen Ernährung.

Gibt es ein bestimmtes Alter, ab dem es ungefährlicher ist, ein Kind vegan zu ernähren?

Eine vegane Ernährung ist nicht mit einem gesunden Wachstum und einer gesunden Entwicklung vereinbar, solange man nicht supplementiert. Das gilt für jedes Alter. Allerdings zeigen sich um so schneller Defizite, je rascher das Wachstum ist. Dann ist nämlich auch der Nährstoffbedarf besonders groß. Solche Phasen schnellen Wachstums sind zum einen das Säuglings- und Kleinkindalter, zum anderen die Pubertät. Jugendliche legen in dieser Zeit einen regelrechten Wachstumsspurt zurück und essen oft wie ein Scheunendrescher, weil sie einen so großen Bedarf haben. Mädchen verlieren zudem durch die Menstruation Eisen. Ernähren sie sich vegetarisch oder vegan, haben sie ein besonders hohes Risiko für einen Eisenmangel.

Manche Eltern wollen ihre Kinder unbedingt vegan ernähren. Gibt es eine geeignete vegane Säuglingsnahrung?

Ja, Säuglingsnahrung auf Soja-Basis. Sie ist zwar nicht gleichwertig mit entsprechender Nahrung auf Kuhmilchbasis, aber sie ist gut geeignet, um nicht-gestillte Säuglinge zu ernähren. Das ist aber etwas anderes als ein Soja-Drink, wie man ihn im Reformhaus kauft – der ist für die Säuglingsernährung ungeeignet.

Ist Soja-Säuglingsmilch nicht problematisch, da sie Hormone in Form von Phytoöstrogenen enthält?

Daher ist sie auch nicht unsere erste Wahl. Unsere erste Wahl ist Stillen von einer gut ernährten Mutter, die zweite Wahl eine Säuglingsnahrung auf Kuhmilcheiweißbasis. Nur wenn das aus weltanschaulichen Gründen nicht akzeptabel ist, würden wir Soja-Nahrung empfehlen.

Also ist es gesünder, bei veganer Ernährung Babys lange zu stillen?

Zunächst einmal: Stillen ist keine vegane, sondern eine tierische Ernährungsweise. Wir empfehlen, möglichst alle Kinder sechs Monate voll zu stillen und auch nach Einführung der Beikost weiterzustillen. Wenn die Mutter keine Nährstoffdefizite hat, ist das sehr gesund. Hat sie sich aber selbst über längere Zeit vegan ernährt, dann enthält auch die Muttermilch zum Beispiel zu wenig Vitamin B12. In solchen Fällen ist es wichtig, dass Mutter und/oder Kind supplementiert werden. Wir sehen in den Kinderkliniken immer wieder Kinder, die an schweren neurologischen Schäden wie Krampfanfällen und Hirnschädigungen leiden, da sie lange von veganen Müttern gestillt wurden und lange vegane Beikost bekommen haben.

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Verschwinden solche Störungen wieder?

Das Tragische ist, dass die Hälfte dieser Kinder dauerhaft Schäden behält. Wenn eine vegan ernährte Frau stillt, sollte sie unbedingt Nahrungsergänzungsmittel einnehmen – das gilt bereits in der Schwangerschaft. Diese Zeit und die ersten beiden Lebensjahre des Kindes sind besonders empfindliche Phasen, da sich Gehirn und Nervensystem entwickeln. Aber auch später kann es zu Funktionsbeeinträchtigungen kommen. Wenn man sein Kind schützen will, dann muss man vegane Ernährung mit Supplementen kombinieren.

Sind Kinder, die so ernährt werden, genauso gut versorgt wie Kinder, die nicht-vegetarisch essen?

Es ist besser, den Nährstoffbedarf mit Lebensmitteln zu decken. Sie enthalten mehr als nur die essenziellen Nährstoffe. Außerdem ist auch die Verfügbarkeit der Nährstoffe anders. Zum Beispiel kann der Körper Eisen aus Fisch oder Fleisch deutlich besser aufnehmen als aus vielen Präparaten.

Wie gut ist das Thema wissenschaftlich untersucht?

Es gibt viele Studien dazu. Eine zeigte zum Beispiel, dass vegan ernährte Kinder nicht nur ein geringeres Körpergewicht, sondern auch eine geringere Körperlänge haben. Das zeigt sehr deutlich an, dass der Körper nicht optimal mit Nährstoffen versorgt ist, also sein Wachstumspotenzial nicht ausnutzt. Man hat außerdem gesehen, dass vegane und vegetarisch ernährte Kinder deutlich häufiger einen Eisenmangel haben als omnivor ernährte, die also auch Fisch oder Fleisch essen. Man muss dazu sagen: Schon kleine Mengen Fisch oder Fleisch reichen. Grundsätzlich plädieren alle Experten für eine pflanzenbetonte Ernährung.

Bei veganer Ernährung soll die Proteine von Hülsenfrüchten und Vollkorn kommen. Die meisten Kinder essen aber lieber Spaghetti und Pizza. Kann »picky eating« eine zusätzliche Gefahr bedeuten?

Das kann ein Problem sein, das hängt vom Kind ab und von der Familie. Es kommt auch darauf an, woran das Kind gewöhnt ist. Die meisten Kinder, die sich vegetarisch und vegan ernähren, haben keinen Eiweißmangel. Aber es ist wichtig, Lebensmittel geschickt miteinander zu kombinieren, um den Proteinbedarf zu decken, also etwa Bohnen oder Linsen mit Reis oder Weizen.

Wie sieht man das Thema vegane Ernährung von Kindern in anderen Ländern?

In den USA wird das weniger kritisch gesehen. Dabei muss man aber berücksichtigen, dass dort viel flächendeckender supplementiert wird. Sehr viele Lebensmittel werden mit Nährstoffen angereichert. Es gehört in den USA auch zum »guten Ton«, in den Drogeriemarkt zu gehen und sich ein Nahrungsergänzungsmittel zu holen. Deswegen ist dort eine vegane Ernährung in der Breite leichter möglich, weil veganen Fertigprodukten in aller Regel die kritischen Nährstoffe zugeführt werden und auch ganz viele Menschen ohnehin ein Supplement nehmen.

Und von den USA einmal abgesehen ...?

In Indien gibt es eine hohe Zahl vegan ernährter Menschen. Vitamin-B12-Mangel ist dort weit verbreitet. Ich habe gerade mit einem indischen Kinderarzt gesprochen, der bei einem Neugeborenen-Screening sehr häufig einen Vitamin-B12-Mangel festgestellt hat. Die Säuglinge hatten oft Entwicklungsstörungen und weitere Probleme, etwa Blutarmut. Das ist ein ganz großes gesundheitliches Problem, dem man jetzt mit verschiedenen Initiativen begegnen will.

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