Europawahlen exklusiv

Vereine für Menschen mit Behinderungen mobilisieren zur EU-Wahl. Zugleich mehren sich rechte Angriffe gegen sie

»In Europa gibt es viele verschiedene Länder. Viele von ihnen haben sich in der EU zusammengeschlossen. Heute gehören 27 Länder zur EU. Diesen Sommer sind Europa-Wahlen.« So führt die »Lebenshilfe-Zeitung« in Leichter Sprache ihren Schwerpunkt zur Europawahl ein. Die Lebenshilfe ist ein Selbsthilfeverein für Menschen mit Behinderung und ihre Familien. In ihrer März-Ausgabe informiert sie über die Wahl.

Zugleich entschloss sich die Organisation, explizit unter dem Motto »Teilhabe statt Ausgrenzung. Keine Stimme für die AfD« zu den anstehenden Wahlen, wie der EU-Wahl, aufzurufen. Als vergangene Woche ein Ziegelstein mit der Aufschrift »Euthanasie ist die Lösung« in eine der Lebenshilfe-Wohnstätten in Mönchengladbach in Nordhrein-Westfalen geworfen wurde, blieb unklar, ob der Vorfall mit den Wahlaufrufen zusammenhängt.

In letzter Zeit sei es vermehrt zu Angriffen gegen ihre Einrichtungen und ihre Bewohner gekommen, sagt Özgür Kalkan zu »nd«. Er ist Geschäftsführer der Lebenshilfe-Einrichtungen in Mönchengladbach. Zu den Angriffen zählten physische Gewalt sowie verbale und digitale Hetze. Besonders besorgniserregend sei die zunehmende Feindseligkeit gegenüber Menschen mit Behinderungen, die so weiter marginalisiert würden. »Wir erleben eine verstärkte Bedrohung unserer Arbeit und unserer Werte der Inklusion und Teilhabe«, sagt Kalkan. In Mönchengladbach findet deshalb diesen Donnerstag eine Solidaritätskundgebung statt. In ihrem Aufruf zur EU-Wahl betont die Lebenshilfe: Das »freie Europa« werde durch rechtsextreme Kräfte bedroht.

Auch die Sozialorganisation Aktion Mensch setzt sich für Inklusion ein und mit der Europawahl auseinander. Sie hat alle 14 aktuell im EU-Parlament vertretenen deutschen Parteien befragt, was sie nach der Wahl planen, um Inklusion voranzubringen. Laut ihren Antworten setzen sich CDU, SPD und FDP für einen europäischen Behindertenausweis ein. Bei der Linken fallen Stichworte zu inklusiver Arbeit, Ausbildung und Wohnen. Die Freien Wähler fordern alle EU-Dokumente in Leichter Sprache, auch die Ökologisch-Demokratische Partei, die Tierschutzpartie, die Piratenpartei und Volt bekennen sich zu Inklusion. Die SPD bietet sogar ihr Wahlprogramm in Leichter Sprache an.

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Von einigen Parteien gab es keine Rückmeldung, darunter die AfD. Ihr Wahlprogramm fiel besonders negativ auf. Aktion Mensch vermerkt: »Im Europawahlprogramm der Partei taucht das Wort Inklusion nur in zwei kurzen Absätzen auf, in denen sich die AfD klar gegen Inklusion im Bildungsbereich ausspricht und für den Erhalt des Förderschulsystems.« Im Kultursektor beklage die AfD außerdem einen ideologischen Konformitätsdruck durch EU-Maßnahmen, unter anderem zur Inklusion. »Es geht im Programm der AfD nicht darum, was für Inklusion getan werden muss. Stattdessen fordert sie Maßnahmen, die Teilhabe verhindern«, sagt Christina Marx, Sprecherin der Aktion Mensch, zu »nd«. Das Wort Barrierefreiheit komme im Programm gar nicht vor.

Wenig Raum für Sozialpolitik

Generell sei im deutschen Europawahlkampf auffällig, dass sozialpolitische Themen wenig Raum hätten, führt Marx weiter aus. Der Fokus habe auf Themen wie Sicherheit, Migration, Standortfaktoren oder Klima gelegen, was zum Teil an der weltpolitischen Situation liege. Doch es gebe noch einen anderen Grund: »Es sind immer noch sehr wenige Menschen mit Behinderung in Parteien aktiv.« So mache beispielsweise Katrin Langensiepen einen merklichen Unterschied. Sie sitzt für die Fraktion Die Grünen/EFA im EU-Parlament, setzt sich für ein grün-inklusives Europa ein und hat eine sichtbare Behinderung.

Aktion Mensch hat gemeinsam mit dem Sozialforschungsinstitut Ipsos die Teilhabe-Community zur Europawahl befragt. Das ist ein Umfrage-Panel, das sich ausschließlich aus Menschen mit Behinderungen zusammensetzt. 91 Prozent der Befragten gaben an, an der Europawahl teilnehmen zu wollen. Ihnen sind auf EU-Ebene die gleichen Themen wichtig wie auf kommunaler oder nationaler Ebene.

Viele dieser Aspekte könnten auch durch europäische Institutionen bearbeitet werden. Dazu gehören Barrierefreiheit im öffentlichen Personennahverkehr und Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsmarktchancen von Menschen mit Behinderung. Dabei gehe es ihnen vor allem darum, so Marx, Leitlinien umzusetzen, die Fördergelder weg von Werkstätten und hin zu einem inklusiven Arbeitsmarkt verteilen. Ein weiterer wichtiger Punkt sei die Förderung von selbstbestimmten Wohn- und Lebensformen. In Deutschland sind bisher nur zwei Prozent aller Wohnungen barrierefrei.

Entgegen dem Trend braucht es deswegen künftig einen stärkeren Fokus der Parteien auf Inklusion, sagt Marx, und zitiert das Motto des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Jürgen Dusel: »Demokratie braucht Inklusion.« Gemeint ist: Eine funktionierende Demokratie lebt davon, dass sich viele unterschiedliche Menschen daran beteiligen.

Auch Özgür Kalkan von der Lebenshilfe erhofft sich Fortschritte durch die Europawahlen. Die Lebenshilfe setze insbesondere auf eine verstärkte finanzielle Unterstützung für inklusive Projekte, eine Verbesserung der Barrierefreiheit und eine stärkere Bekämpfung von Diskriminierung und Hasskriminalität. Was außerdem dringend notwendig sei, so Kalkan: »Ein klares politisches Signal gegen rechtsextreme Tendenzen und für die Rechte von Menschen mit Behinderungen.«

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