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»Row Zero«: Sexualisierte Gewalt, Drugs und Rock`n`Roll

Nadia Shehadeh über zwei neue Veröffentlichungen zum Rekrutierungssystem von Rammstein-Sänger Till Lindemann

Rammstein Fans 2023 vor dem Olympiastadion in Berlin
Rammstein Fans 2023 vor dem Olympiastadion in Berlin

Ein Ratespiel: Jérôme Boateng unterschreibt einen neuen Prof-Vertrag und wird von seinem neuen Verein als »begehrter Ausnahmespieler« und »Vorzeigeathlet« gefeiert. Rammstein gehen auf eine Europa-Stadion-Tour und lassen sich von hunderttausenden Fans feiern. Welches Jahr haben wir? 2017, 2021 oder 2024? Oder ist es inzwischen fast egal? Wahrscheinlich Letzteres. Leider.

In der Sphäre des Profi-Fußballs und im Universum der A-List-Musikwelt kann man es sich gut gehen lassen – egal, was für Bockmist man in »einem vorherigen Leben« gebaut hat. Ruhm, Macht und Geld sind nicht nur ein Garant dafür, mit problematischem Verhalten durchzukommen, sie garantieren oft auch, dass man sich nach Skandalen und Vorwürfen in einen kuscheligen Kokon zurückziehen kann, der »Karriere« heißt. Die Superreichen und Supererfolgreichen kommen mit vielem durch – vor allem dann, wenn sie nicht nur reich und berühmt, sondern auch noch männlich sind.

Nadia Shehadeh
Bielefeld

Nadia Shehadeh ist Soziologin und Autorin, wohnt in Bielefeld und lebt für Live-Musik, Pop-Absurditäten und Deko-Ramsch. Sie war lange Kolumnistin des »Missy Magazine« und ist außerdem seit vielen Jahren Mitbetreiberin des Blogs Mädchenmannschaft. Zuletzt hat Shehadeh bei Ullstein das Buch »Anti-Girlboss. Den Kapitalismus vom Sofa aus bekämpfen« veröffentlicht. Für »nd« schreibt sie die monatliche Kolumne »Pop-Richtfest«.

Seit Sommer 2023 wird im Fahrwasser der Berichterstattung um das Verhalten des Rammstein-Frontmanns Till Lindemann gegenüber jungen weiblichen Fans oft das eine Mantra wiederholt: Es gehe um »Machtmissbrauch im Musikbusiness«. Es ist ein einprägsamer Terminus, der natürlich auf offensichtliche Missstände im Unterhaltungsgeschäft hinweist. Ganz im Sinne von #MeToo deutet man an, dass es im Arbeitsleben (hier: Profi-Musiker-Geschäft) Machtgefüge gibt, die problematische, gewalttätige und vielleicht sogar strafrechtlich relevante Verhaltensweisen begünstigen können. Es ist wichtig, dass über diese Missstände gesprochen wird – und jüngst sind zur Causa Rammstein weitere wichtige Recherchen veröffentlicht worden. Im NDR-Podcast »Rammstein – Row Zero« werden die Geschichten junger Frauen erzählt, die in der Vergangenheit im Lindemann-Rekruitierungssystem gelandet sind, das sichergestellt hat, dass vor, nach und während Rammstein-Konzerten sexualisierte Begegnungen zwischen dam Rammstein-Sänger und seinen Fans stattfinden konnten.

Das Buch »Row Zero – Gewalt und Machtmissbrauch in der Musikbranche« von Lena Kampf und Daniel Drepper schaut nun noch tiefer hinter die Kulissen der Fan-Ausbeutung in der Musikindustrie. Sie sprachen mit über 200 Personen aus der Musikbranche und belegen damit unter anderem, wie nicht nur die Macht von einzelnen Stars, sondern auch die mitwirkenden und vertuschenden Aktionen vieler anderer Protagonist*innen aus der Musikszene ungute Dynamiken, moralisch Fragwürdiges oder sogar missbräuchliches Verhalten begünstigen. Und sie zeigen auf, dass es sich nicht um Ausrutscher mit Seltenheitswert handelt, indem sie bekannte Einzelfälle der letzten Jahre beleuchten: Von strafrechtlich veritablen Beispielen (R. Kelly) bis hin zum Arschloch-Verhalten, das juristisch nicht zu klären ist (Ryan Adams) ist der ganze Blumenstrauß an Scheißgeschichten dabei. Ganz nach der Devise: Nicht schön und leider auch nicht selten.

Die Perspektive von Betroffenen zu beleuchten ist dabei Dreh- und Angelpunkt im Buch von Kampf und Drepper. »Row Zero« ist nicht nur ein wichtiges Archiv sexistischer und misogyner Ausfälle im Popkulturwesen, sondern auch ein Werk, das die Narrative von Betroffenen in den Vordergrund stellt. Quasi auch als dynamisches Langzeitprojekt: Dass sehr offen recherchiert und die Tür für Betroffene weit geöffnet wurde, konnte man seit nunmehr zwölf Monaten mitverfolgen – mit Artikeln, mit Projekten, mit Recherchen. Deswegen ist »Row Zero« auch eigentlich ein Buch, das fortlaufend weitergeschrieben werden könnte – so groß ist schließlich auch das Feld, dem man sich annimmt.

Es lohnt allerdings, sich beim Lesen von »Row Zero« immer wieder daran zu erinnern, dass es nicht allein ein diffuser Machtmissbrauchsbegriff ist, der soziale Praktiken erklären kann. Insgesamt muss man aktiv mitdenken, was eigentlich dazu führt, dass männliche Täter ohne Sorge und meist auch ohne Konsequenzen ihren »Lastern«™ frönen können. Denn im ungünstigsten Fall bleibt sonst im Hintergrund, worüber auch gesprochen werden müsste: Misogynie, cis-männlicher Gewalt, Heterosexismus, Rape Culture, Queerfeindlichkeit.

Zwar wird ein Skandal um das Verhalten der US-Sängerin Lizzo gegenüber ihres Teams als Beispiel herangezogen, um die Möglichkeit zu zeigen, dass Machtmissbrauch nicht allein ein Problem der Musikbusiness-Männer sei. Doch das wirkt ungünstig: Warum soll es ausgerechnet das Verhalten einer Schwarzen Künstlerin sein, um aufzuzeigen, dass auch Frauen im Pop-Business zur Speerspitze der Machtmissbrauchenden gehören können?

Denn in der Summe der Probleme, die »Row Zero« beschreibt, wird vor allem eins klar: Moralisch verwerfliches und/oder gewalttätiges und/oder missbräuchliches Verhalten in der Unterhaltungswelt ist immer eingebettet in patriarchal-kapitalistische Strukturen, die natürlich auch rassistisch sind. Es sind Strukturen, in denen Täter gefördert und geschützt werden – vor allem dann, wenn sie Profiteure des Systems sind. Und es sind Strukturen, in denen Betroffene nur dann im großen Stil angehört werden, wenn es die Machtstrukturen der Aufmerksamkeitsökonomie möglich machen.

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