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Widerstandsfolklore
Was hat der junge Revoluzzer von heute nur mit dem Pali-Tuch?
Ich bin mir nicht sicher, ob es in einer besseren Zukunft deutschen Linken nicht besser anstünde, ganz auf das Herzeigen von völkischem Identitätsquatsch, welcher Art auch immer, zu verzichten. Man geht ja auch nicht mit Blackfacing auf eine antirassistische Demonstration.
Die vor allem unter jungen Bürgern dieses Landes, die sich selbst gerne als Widerständler imaginieren, neuerdings wieder stärker ausgeprägte Neigung, in der Öffentlichkeit ein Palästinensertuch spazierenzutragen, dürfte nicht allein mit dem tiefsitzenden Wunsch, sich wichtig zu machen, indem man sich selbst zum Unterdrückten stilisiert, zu erklären sein.
Gewiss: Das Smartphone hat schon wieder keinen Saft mehr, und Papa hat schon wieder das monatliche Taschengeld zu spät überwiesen. Man fühlt sich also auch irgendwie als Opfer der herrschenden Verhältnisse. Man ist irgendwie diffus »gegen Krieg«, und man gefällt sich in der Vorstellung, man sei maßgeblich an einer weltpolitisch bedeutenden Angelegenheit und an der Herstellung internationaler Gerechtigkeit beteiligt, sei es durch ein um die Schultern drapiertes Stoffstück, das vor allem Ausdruck einer Blut-und-Boden-Ideologie ist, durch das Herunterleiern von Sprechchören oder durch eine wacker in die Höhe gereckte Faust: Man muss sich also vergleichsweise wenig anstrengen, um sich ein befriedigendes Gefühl zu verschaffen.
Hibbelige und auch hormonell aufgekratzte junge Leute wollen oft schnell politische Veränderungen sehen und haben’s tendenziell mehr mit dem Fühlen als mit dem Denken, daher auch die haltlose Schwärmerei, das schrille Parolengeschrei, das brummdumme Sieg-oder-Tod-Pathos und die Neigung zum uniformen Auftreten. Wenn gerade keine passenden Fanatiker zur Hand sind, mit denen man sich identifizieren kann, wird einem eben rasch fad im Schädel.
Thomas Blum ist grundsätzlich nicht einverstanden mit der herrschenden sogenannten Realität. Vorerst wird er sie nicht ändern können, aber er kann sie zurechtweisen, sie ermahnen oder ihr, wenn es nötig wird, auch mal eins überziehen. Damit das Schlechte den Rückzug antritt. Wir sind mit seinem Kampf gegen die Realität solidarisch. Daher erscheint fortan montags an dieser Stelle »Die gute Kolumne«. Nur die beste Qualität für die besten Leser*innen! Die gesammelten Texte sind zu finden unter: dasnd.de/diegute
So ist vermutlich auch – zumindest teilweise – zu erklären, warum am 4. Mai auf einer pro-palästinensischen Demonstration, die über den Berliner Kurfürstendamm führte, aus dem zentralen Lautsprecherwagen dieser Satz zu vernehmen war, während die Demonstrationsteilnehmer unbeirrt weiterstapften auf ihrem Weg: »Vielleicht wird es auch mal Zeit für einen Deutschen, einen deutschen Führer, einen Krebsheiler, der dieses Land befreit, der dieses Land vom Zionismus befreit!«
Angesichts der traditionellen deutschen Vorliebe für allerlei Völkisch-Folkloristisches und Heimatkitsch jeder Art, die bisweilen auch von manchen Leuten geteilt wird, die sich selbst für irgendwie links und fortschrittlich halten, ist es schwer, den jungen Leuten einzubimsen, dass man nicht auf Demonstrationen mitlatscht, auf welchen lautstark und in astreinem Nazijargon nach einem »deutschen Führer« verlangt wird, wenn man als Linker halbwegs ernst genommen werden will.
Es ist im Übrigen kein Staatsgeheimnis, dass seit mindestens 25 Jahren das sogenannte Pali-Tuch auch von Neonazis getragen wird, die, wie man weiß, auch eine Vorliebe für Heimatkitsch, »nationale Befreiung« und den Kampf gegen ihrer Ansicht nach wurzellose, international agierende Personenkreise haben.
Wer als Linker hierzulande ausgerechnet auf der Dringlichkeit der »Israelkritik« besteht, sollte zuvor zumindest zur Kenntnis genommen haben, dass – neben Biertrinken, Fußballgucken, Herummackern und Deutschlandfahnenschwenken – die »Israelkritik« eine der Lieblingsbeschäftigungen der hiesigen Bevölkerung ist.
Der vor fünf Jahren verstorbene Schriftsteller und Kolumnist Wiglaf Droste, der jahrzehntelang für die sich als marxistisch verstehende Zeitung »Junge Welt« schrieb und sich zu seinen Lebzeiten bekanntermaßen nicht gerade als glühender Verteidiger des »westlichen Imperialismus« hervorgetan hat, fasste einmal treffend in einem Satz zusammen, warum Deutsche besser daran täten, jede Art von »Israelkritik« zu unterlassen: »Es gibt für Deutsche sechs Millionen Gründe, sich Israel gegenüber belehrender Kommentare und staatsanwaltsartig vorgetragener Anklagen zu enthalten.« Diese Empfehlung Drostes gilt übrigens auch dann, »wenn dein Opa nicht in der Wehrmacht dazu beitrug, dass hinter der Front die Gaskammern laufen konnten«, wie Deniz Yücel 2014 in der »Taz« ergänzte.
Mag ja sein, dass Israel derzeit von unsympathischen Figuren regiert wird. Allerdings werden derzeit grob geschätzt 99,9 Prozent aller Staaten von unsympathischen, reaktionären Figuren regiert, deren Mehrzahl noch nicht einmal infolge von Wahlen an die Macht kam. Ein Umstand, durch welchen die sich links wähnenden, so engagierten »Israelkritiker« bisher allerdings nicht dazu veranlasst werden konnten, auf »Saudi-Arabien-«, »Iran-« oder »Sachsenkritik« umzusatteln. Auch den Satz, dass »legitime Hamaskritik weiterhin erlaubt sein muss«, hat man von ihnen bislang nicht gehört.
Sicher ist jedenfalls: Leute, die das Denken noch nicht vollständig eingestellt haben, halten es vorerst für unwahrscheinlich, dass aus der als faschistisch einzustufenden Hamas in absehbarer Zeit ein queeres anarchistisches Kollektiv werden wird.
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