Spiel, um Räume zu öffnen

Die Fußball-EM und das »Stadion der Träume«: Albert Ostermaier über Brecht, Eidinger und Deutschland

  • Interview: Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 8 Min.
Ein »Tausendsassa«: Fußballer, Dichter und Dramatiker
Ein »Tausendsassa«: Fußballer, Dichter und Dramatiker

Albert Ostermaier, »Ihr« Bayern München wurde letzte Saison »nur« Dritter – nehmen Sie meine Gratulation trotzdem an?

Die Parole von Jenö Konrad, dem großen jüdischen Trainer des 1. FC Nürnberg, den die Nazis vertrieben, war immer: Erster sein! Aber ich glaube, dass für Bayern dieses Jahr der dritte Platz der erste für die Zukunft ist. Ohne Niederlage keine Veränderung. Und ohne Veränderung keine (nächste!) Meisterschaft.

Das Old Trafford, Heimspielstätte von Manchester United, wird »Theatre of Dreams« genannt. Ihre Idee vom »Stadion der Träume« erzählt ebenfalls Dramen. Sie selbst steuern ein Stück über George Best bei. Der Magier von Manchester, gespielt von Lars Eidinger – welche Seelenlandschaft wird sich da auftun?

Die Seelenlandschaft ist ein Stück Rasen, umringt von Rängen. Der Strafraum ist der Ort des Stürmers, ob er nun ein Himmelsstürmer wird oder die Hölle durchlebt, ob das Pech am Stiefel klebt oder die Flügelfedern von den Schultern fallen wie Blätter im Herbst. Jeder Stürmer muss sein Tor träumen, in Räumen, die sich nur ihm allein öffnen. Lars Eidinger ist für das Theater das, was George Best für den Fußball war: der fünfte Beatle. Unter ihm brennt der Rasen wie die Bühne. Er verwandelt sich schneller als sein Schatten. Ich bin mir sicher, Ovid hätte über ihn geschrieben.

»Der Bessere soll gewinnen« oder »Ich bin immer für die Schwächeren« – ist denn ein richtiger Fußballfan in der Lage, so trocken anständig zu denken?

Interview

Albert Ostermaier, 1967 in München geboren, ist einer der prägenden deutschen Dichter und Dramatiker. Viele seiner Stücke gelangten zu internationaler Aufführung (u. a. Los Angeles, New York, Athen, Santiago de Chile, Kiew, Rom, Teheran). Er ist Torwart der deutschen Autoren-Nationalmannschaft im Fußball und künstlerischer Leiter des DFB-Kulturprogramms »Stadion der Träume« in München. Unter diesem Titel finden während der EM an zehn Spielorten Veranstaltungen statt: Aufführungen, Konzerte, Lesungen, Diskussionen.

Das sind mit die beiden schlimmsten Sätze, die es gibt, wenn man über Fußball spricht. Verlogener geht es kaum. Der Bessere gewinnt immer, denn wer gewinnt, ist der Bessere.

»Die Situationen sind die Mütter der Menschheit.« Brecht.

Genialer Satz. Ein Stoß gegen die geistig Festgefahrenen. Fußball ist eine Möglichkeitsform, und das Faszinierende ist, dass auch der für schwächer Gehaltene den Sieg davontragen kann, klar. Das ist diese Legende von David gegen Goliath. Natürlich fiebert jeder für David und möchte sich als Teil dieser Erzählung sehen: dass sich Schwäche in Stärke verwandelt. Und dass man die Mächtigen mit einer Steinschleuder entmachten kann. Dass das Schicksal also gerecht ist.

Auch Fußball ist nicht gerecht.

Aber: Die Stigmatisierung der Stärkeren ist billig. Als wäre es moralisch verwerflich, eine bessere Mannschaft zu haben. Wem es nur darum geht, den Stärkeren fallen zu sehen, der hat von Fußball nichts verstanden, sondern projiziert in den Sport einen Klassenkampf, den es so längst nicht mehr gibt. Denn alle spielen sie im kapitalistischen Team.

Sie alle, wir alle.

So oder so.

Ist Fußball für Sie Trost, Trotz? In einer alternativfaulen, umherirrenden Gesellschaft?

Die Überraschung; die Kalligraphie eines Spielzugs; die Unhaltbaren, die gehalten werden – das ist Trost.

Um was zu vergessen?

Alles, was alles außerhalb des Rasens passiert. Früher war Fußball für mich auch Trotz – gegen Anwürfe, ich machte mich als Dichter gemein mit dem Trivialen. Das ist vorbei. Heute sage ich: Trotzdem Fußball! Trotz der Geschäfte des Herrn Giovanni Infantino. 

Im »Stadion der Träume« in München werden Marcel Reif und Rachel Salamander über Antisemitismus diskutieren. Das klingt nicht wie eine Neuauflage des legendären, lädierten Sommermärchens von einst.

Im »Stadion der Träume« wollen wir auch über die Albträume reden, um den Traum einer gerechten Gesellschaft zurückzugewinnen.

Das ist hoch hinaus getönt! Den Ball an die Wolken nageln?

Sie spötteln. Ich gebe zu, beim Schuss aufs Tor muss man den Ball etwas flacher halten. Beim Träumen jedoch nicht, wir sind leider, aus guten wie unguten Gründen, furchtbar berauscht am Ernüchtertsein. Aber wer keine Kraft zum Träumen hat, hat keine Kraft zum Leben, sagt Ernst Toller. Der Fußball auf der Straße oder in den Ghettos oder in den Vereinen, wo Geflüchtete mit Einheimischen in einer Mannschaft spielen, Sport also auf dem Platz, wo es keinen Rassismus gibt – das kann eine lebensverändernde Erfahrung für Jugendliche sein. Wer miteinander spielt, redet anders miteinander.

Was sagen Sie denen, die gebetsmühlenartig von Fußball-Profis verlangen, sie sollten als Bürger öffentlich Position beziehen? Natürlich systemkritisch.

Die einzig stichhaltige Systemkritik eines Profis ist die, dass man besser 4-3-3 statt 4-4-2 hätte spielen sollen.

Jetzt sind Sie es, der spöttelt.

Überhaupt nicht. Natürlich finde ich es großartig, wenn Fußballer ihre öffentliche Wirkung nutzen, um Richtiges zu sagen und ein wenig mitzuhelfen, die Gesellschaft zu verändern. Aber so viele Antworten sind standardisiert und eingebläut. Ein Fußballer kommt meist mit zehn Sätzen durch die Welt, Thomas Müller ist da im Vergleich fast ein Jean Paul. Wir sollten uns fragen, warum wir von Fußballern das einfordern, worin wir selbst so oft versagen, nämlich: Haltung zu zeigen. Ist es nicht unerträglich, wenn alle überall über Dinge reden, von denen sie keine Ahnung, kein fundiertes Wissen, sondern nur eine bloße, banale, unwichtige Meinung haben?

Der Dichter Volker Braun schrieb 1990: Erst jetzt haben wir, im Osten, eine Biografie, denn Zerrissenheit, Scheitern, Verlust sind Voraussetzungen für ein hautnahes Erleben von Geschichte. Fühlen Sie das ebenso, als ein Mensch aus dem so siegreich aufspielenden Westen?

Volker Braun ist einer der größten deutschen Dichter, der auch ein Denker ist, wie es an Schärfe und Präzision kaum einen zweiten gibt. Der Satz ist in die Haut gebrannt, die er dann der DDR über den Kopf zieht. Ich denke aber, schon vor 1990 war die DDR eine bedenkenswerte Geschichtserfahrung: die Fallhöhe alltäglich und die Wolken ungeheurer oben. Und ich weiß nicht, ob der sogenannte Westen wirklich siegreich ist. Ich sehe eher Scheinsiege von Scheinriesen. Beckenbauer hat nach der WM 1990 gesagt, mit den Spielern der DDR würden wir für lange Zeit unbesiegbar sein. Er hatte nicht recht – und hätte doch recht haben können: wenn wir uns, gesellschaftlich, als eine Mannschaft begriffen hätten, die gemeinsam ein neues Spielsystem entwickelt.

Ist den Deutschen bei der EM schon deshalb der Sieg zu gönnen, um der lustigen Sekte von Antideutschen wieder mal eins auszuwischen?

Fußball ist ein Spiel der Identitäten. Das liebe ich daran. Die Nationalmannschaft ist ein ehrlicheres Bild Deutschlands als der Bundestag. Wer gegen die Nationalmannschaft ist, ist gegen eine Gesellschaft, in der jeder mitspielen darf. Das Deutschland der Nationalmannschaft ist ein Deutschland, das wir andernorts längst noch nicht erreicht haben.

Was an Deutschland macht Ihnen Mut und Hoffnung?

Wenn ich sehe, wie viele Leute AfD wählen wollen, geht mir erst mal aller Mut verloren, und ich frage mich, was wir ändern müssen, damit wir nicht plötzlich im Faschismus aufwachen. Aber Hoffnungslosigkeit ist der Erfolg der Hoffnungsvernichter. Deshalb dürfen wir nicht lockerlassen. Wir müssen bilden, bilden, bilden. Angst fressen Demokratie auf.

Ich weiß, der Torwart ist für Sie der wahre Abenteurer. Warum?

Du musst dich in Situationen begeben, die sehr schmerzhaft sein können, und zwar ohne lange nachzudenken. Diese Risikobereitschaft, diese Unmittelbarkeit ist etwas, das man sich auch für sein Leben wünscht – aber im Alltag nicht einlösen kann.

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Da genügen doch Stichworte: Feigheit, Bequemlichkeit, Einsicht in falsche Zwänge.

Was geschah mit den Torwarthandschuhen, die Sie als Kind von Bayern-Torwart Sepp Maier geschenkt bekamen?

Sie sind verloren gegangen. Der heilige Gral. Ich muss sie wiederfinden.

Sie dürfen dem Fußballgott drei Fragen stellen. Welche wären es?

Ganz egoistisch: Darf ich trotz meiner Rückenwirbel-Sorgen je wieder im Tor stehen? Wie kann man einen Fußballroman schreiben, der es mit den US-Baseballromanen aufnehmen kann? Und wäre es möglich, für Infantino und dergleichen einen strafenden Platz im Purgatorium zu finden? Am besten sofort.

Der Fußballgott darf Ihnen eine einzige Frage stellen. Aber welche bitte nicht?

War das nicht ein Torwartfehler?

Es gibt von Ihnen eine »Wunschliste«, ein Text nach »Orjes Wunschliste« von Brecht. Seltsam: Wenn man mit Ihnen spricht, möchte man immer wieder den Augsburger heranziehen.

Tiefenschärfe hat er für mich dort, wo er dunkel und böse und weise ist. Wo er Teil des unmittelbaren politischen Kontextes ist, verstehe ich zwar seine Haltung, finde ihn als Dichter aber langweilig. Man kann die Existenz des Menschen nicht durchgängig materialistisch deuten.

In Ihrer »Wunschliste« heißt es: »von den deutschen die schweinsteiger/ von den bastians die übersteiger«. Das war vor über zehn Jahren. Aktualisieren Sie diese Liste bitte.

Kann ich noch nicht. Mit dem Karriereende von Bastian ist in mir etwas erloschen, eine Idee von Spieler, die mich begeistert. Schweinsteiger, der immer wieder aufstand. Wenn er gespielt hat, konnte ich auf eine Art mitfiebern, wie ich es heute nicht mehr kann oder sehr selten. Vielleicht kommt es zurück und damit auch eine neue Liste. Ich mag diese Spieler nicht, die wie aus der Playstation kommen. Ich mag ganz altmodisch Charaktere.

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