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Die Ostfrau als Dinosaurierin

Ein Tag auf dem Osten-Festival zeigt, wie dort Generationen und Milieus aufeinandertreffen

Beim Osten-Festival soll es darum gehen, miteinander ins Gespräch zu kommen – wie etwa hier beim gemeinsamen Puppenbasteln.
Beim Osten-Festival soll es darum gehen, miteinander ins Gespräch zu kommen – wie etwa hier beim gemeinsamen Puppenbasteln.

Gleich zu Beginn gab es einen vermeintlichen Skandal: Nach Ansicht des AfD-Bundestagsabgeordneten Kay-Uwe Ziegler hat das Osten-Festival gegen das Waffengesetz verstoßen. Dazu genügt ihm, dass am Eröffnungswochenende eine Installation gezeigt wurde, die aus mit Stofffetzen versehenen Wasserflaschen und einer Anleitung zum Bau von Molotow-Cocktails bestand. Auch ein zweites Kunstwerk wird derzeit von der Staatsanwaltschaft geprüft, in diesem Fall wegen des Verwendens verfassungsfeindlicher Symbole. Tatsächlich enthält es Hakenkreuze – allerdings nimmt die Künstlerin damit bloß Bezug auf eine in der Nähe des Ausstellungsortes in eine Wand eingeritzte Swastika, die zuvor offenbar niemanden gestört hatte.

Auch wenn man sich durchaus fragen kann, ob es sich bei den Molotow-Cocktail-Attrappen um gelungene Kunst oder doch einfach Agitation handelte – eine ukrainische Kunststudentin wollte damit auf die Situation in ihrer Heimat nach der russischen Invasion aufmerksam machen –, erscheint die Reaktion darauf doch ziemlich übertrieben. Die Vorfälle sind ein Indiz dafür, dass das derzeit in Bitterfeld-Wolfen ausgetragene Festival Rechtspopulisten offenbar ein gewaltiger Dorn im Auge ist. Auch ohne Waffen fürchtet man wohl eine gewisse Sprengkraft. Dabei wirkt die Veranstaltungsreihe, die in diesem Jahr zum zweiten Mal stattfindet, diesmal sogar an drei Wochenenden statt nur an einem, auf den ersten Blick gar nicht so politisch. Vor allem will sie ein Ort des »gegenseitigen Interesses« sein. Wie schon im letzten Jahr soll es darum gehen, die soziale, ökonomische und ökologische Realität Ostdeutschlands mit verschiedenen künstlerischen Mitteln auszuloten.

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Kurator und Dramaturg Aljoscha Begrich ist selbst im ländlichen Raum der DDR aufgewachsen, hat später an Theaterprojekten in New York oder Teheran gearbeitet. Schon letztes Jahr war er ambitioniert zurückgekehrt, um das Osten-Festival zu leiten; dieses Jahr ist er zusammen mit der Kulturmanagerin Susanne Beyer für das Programm verantwortlich. Ihr kuratorisches Team hat Theaterleute und Künstlerinnen aus aller Welt eingeladen. Viele, das erfährt man hier aus Gesprächen, haben ihren Lebensmittelpunkt in Berlin.

Vielleicht ist daher die Grundfrage, die das Festival aufwirft: Lassen sich die urbane, transnationale Kunstwelt und der akademische Diskurs darum vereinen mit der Lebensrealität der (ehemaligen) Arbeiterinnen und Arbeiter aus Bitterfeld-Wolfen, deren Nähe man hier sucht, gefördert von Institutionen wie der Kulturstiftung des Bundes und dem Goethe-Institut? Oder gibt es hier eine unüberwindbare Kluft?

Seit über einem Jahrhundert ist Bitterfeld-Wolfen Standort der Chemieindustrie; in DDR-Zeiten standen hier die Filmfabrik Wolfen, ehemals zweitgrößte Filmfabrik der Welt, sowie das Chemiekombinat Bitterfeld. Nach der Wende wurden Teile der Industrie privatisiert, Teile stillgelegt und abgerissen. Tausende verloren ihre Arbeitsplätze. Grundwasser und Boden sind teilweise durch Chemie-Abfälle verseucht; eine sogenannte »Blase« von Giftstoffen, die sich im Boden unter der Stadt befindet, muss ständig überwacht werden. Heute ist die Arbeitslosenquote mit sieben Prozent längst nicht mehr so hoch wie früher (1991 lag sie bei 20 Prozent), aber dass die Menschen hier alles andere als zufrieden mit dem Status quo sind, zeigen die Ergebnisse der Europawahl: 43,2 Prozent der Stimmen aus Bitterfeld-Wolfen gingen an die AfD. Damit sind die Rechten hier noch deutlich beliebter als im Landkreis Anhalt-Bitterfeld (37 Prozent) und Sachsen-Anhalt insgesamt (30,5 Prozent).

An just jenem Sonntag, an dem so drastisch gewählt wurde, besuche ich das Osten-Festival, zuerst den Jugendclub 84 in Wolfen-Nord. Die Gegend wirkt ausgestorben, und das liegt nicht nur am Sonntagmorgen, sondern auch daran, dass in diesem Teil der Stadt einst fünfmal so viele Menschen lebten wie heute. Blumen in allen Farben wachsen auf den sich selbst überlassenen Brachflächen zwischen monumentalen Wohnblöcken aus der Zeit des Sozialismus. An den Laternenpfählen kleben Sticker von Fans des Halleschen FC, fast alle spielen mit rechtsradikaler Symbolik. »Gib dein Leben dem Verein!«, wird man hier aufgefordert.

Welche Filme könnten hierhin besser passen als die von Thomas Heise, der einzigartige Dokumente über die Jugend kurz nach der Wende schuf? Der Filmemacher hatte vorgehabt, das Osten-Festival selbst zu besuchen, starb jedoch Ende Mai nach kurzer schwerer Krankheit. Im Jugendclub 84 ist an diesem Morgen auch sein Film »Imbiss Spezial« zu sehen, der die alltägliche Arbeit in einem Imbiss-Stand am Berliner Bahnhof Lichtenberg im Herbst 1989 einfängt. Trotz Propaganda aus dem Radio wissen hier alle, dass es mit der DDR zu Ende geht.

Die meisten anderen Veranstaltungen des Festivals finden nicht in Wolfen-Nord, sondern rund um die Alte Feuerwache in Wolfen statt. Hier bricht man etwa mit dem Kollektiv hannsjana zu einer kleinen Tour auf, die über das Gelände der ehemaligen Filmfabrik führt. Mittels mehrerer Performances verknüpfen die Künstlerinnen die Themen Paläontologie und ostdeutsche Frauenbewegung miteinander. Sowohl vom Tyrannosaurus Rex – der in Wahrheit zwitscherte, statt zu brüllen –, als auch von der ostdeutschen Frau herrsche heute ein falsches Bild vor, meinen sie. Dass es allerdings doch einen bedeutenden Unterschied zwischen den beiden Phänomenen gibt, zeigt abschließend ein von Frauen aus Bitterfeld-Wolfen einstudierter Cowboy-Tanz: Die Ostfrau ist – ein Glück! – quicklebendig.

Auch die Performance »Handarbeit«, die kurz darauf im Städtischen Kulturhaus zur Aufführung kommt, wurde von Bitterfeld-Wolfenerinnen mitentwickelt. Auf der Bühne machen sie die Vielschichtigkeit der Hand als Körperteil und Bedeutungsträgerin sinnlich erfahrbar.

Am Abend hat das Festival wie an jedem Tag zur Diskussion geladen; diesmal geht es – passend zu den Programmpunkten des Tages – um die Rolle der Frauen in der DDR, speziell in Bitterfeld-Wolfen und der Filmfabrik.

Es ist ein zwangloses und harmonisches Gespräch zwischen Frauen verschiedener Herkunft und Generationen – doch als Lynn T Musiol, Künstler*in aus Berlin, von ihrer*seiner auf dem Festival ausgestellten Installation erzählt, entzündet sich doch kurz Unmut. Es sei »wahrscheinlich«, dass es unter den Mitarbeiterinnen der Filmfabrik zu sexuellen Orgien gekommen sei, mutmaßt Musiol, schließlich sei es in den Dunkelkammern ziemlich heiß gewesen. In der Videoarbeit »Kiss Kiss Wolf« imaginiert Musiol die Filmfabrik als Ort lesbisch-queerer Erotik. Ein paar ältere Zuhörerinnen sind irritiert. Wo denn jetzt die ehemaligen Mitarbeiterinnen der Filmfabrik seien, fragen sie, könnten die doch sicher besser von den Vorgängen dort berichten als die jungen Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen aus Berlin. Vielleicht zeigt die Situation beispielhaft, dass ein Experiment wie das Osten-Festival nicht ganz ohne Reibungen verlaufen kann – doch das hat hier auch niemand verlangt.

Den Abschluss des Tages bildet eine Performance des Kollektivs Bandentheater, auf der Bühne allein getragen von Anja Gessenhardt. Mit den Mitteln des dokumentarischen Theaters und artistischen Einlagen an einer Pole-Dance-Stange erzählt Gessenhardt mitreißend von ihrer Kindheit und Jugend in der DDR sowie davon, wie sie als Teenager den Zusammenbruch ihres Geburtslandes erlebte.

Auf der Rückfahrt berichtet mir mein zufälliger Weggenosse – ein bekannter Dramaturg aus Berlin – von einer Lecture-Performance im Bitterfelder Rathaus, die ich verpasst habe. Das Kollektiv les dramaturx hat darin den Effekten der sogenannten Grünen Revolution in der Landwirtschaft in Bezug auf Klimakrise und Artensterben nachgespürt. Mein Begleiter schwärmt: Was gerade in Bitterfeld-Wolfen geschehe, sei interessanter als alles in der Hauptstadt.

Auch ich habe nach diesem Tag in der anhaltinischen Provinz den Eindruck, dass dort gerade etwas Außergewöhnliches gelingt: Nämlich nicht nur wirklich anregende Kunst zusammenzutragen und zu produzieren, sondern auch mit jeder einzelnen Arbeit einen konkreten Bezug zu diesem Ort und den hier lebenden Menschen herzustellen. Zurück ins Lokale, ohne den universalistischen Anspruch aufzugeben: So geht heute Avantgarde.

An diesem Wochenende (Freitag bis Sonntag) geht das diesjährige Osten-Festival in seine letzte Runde. Das gesamte Programm findet sich unter www.osten-festival.de.

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