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- Mesut Bayraktars »Die Lage«
»Wenn ich seufze, dann brechen Berge«
Mesut Bayraktars »Die Lage« ist ein Wimmelbild der Ausgebeuteten im Kampf um Selbstbestimmung
Es gibt eine Szene in dem kursiv gesetzten Vorwort oder Prolog von »Die Lage«, in der Mesut Bayraktar eine Poetologie seines 300 Seiten starken Erzählbandes formuliert. Zur Premiere seines Theaterstücks »Gastarbeiter-Monologe« im Hamburger Schauspielhaus ist das Theater von proletarischen Körpern bevölkert und Bayraktar bemerkt: »Die staunenden Gesten im Foyer, die forschen Bewegungen in den Rängen, die ungezwungenen Gespräche im Saal, noch nie fühlte sich ein Theater so vertraut an.«
Am selben Abend tritt später ein Mann auf ihn zu, um ihm zu sagen, er habe nicht gewusst, dass sein Leben so interessant sei, »dass man eine Geschichte daraus macht«. Bayraktar trifft eine Entscheidung: Ab diesem Moment »entschloss ich mich, dieses Buch zu schreiben. Es handelt von solchen Menschen und ihrer Lage.« Damit ist der Titel für den 18 Geschichten umfassenden Erzählband »Die Lage« gesetzt. Die Ähnlichkeit des Titels mit Friedrich Engels »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« dürfte nicht zufällig gewählt sein.
Mit einer großen Portion Wärme schickt Bayraktar seine Figuren durch den ganzen Wahnsinn kapitalistischen Alltags, in dem rassistische Gewalt, ein kaputtgespartes Gesundheitssystem, der entfesselte Wohnungsmarkt und die Ausbeutung der Arbeiter*innenschaft dem Glück der Figuren im Weg stehen.
»Die Lage« verklärt nicht, sie zeichnet das Bild der Kämpfe verschiedener Klassenfraktionen um Zugänge zum guten Leben. Manchmal wird, wie im richtigen Leben, nach unten getreten, etwa wenn in der Geschichte von Kai und Axel – einem Streit unter Brüdern – der Ältere dem Jüngeren sagt: Die Arbeiter, »sie sind schuld an der Lage«.
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Drei Teile gliedern den Band: »Begegnung«, »Streit« und »Begehren«. Unter der Überschrift »Begegnung« subsumieren sich Geschichten einer Postmigrationsgesellschaft, in der die Figuren zu Jobs und Verhaltensweisen genötigt werden, die ihnen selbst und anderen schaden. Da ist zum Beispiel der Hilfsarbeiter Yürekli, dessen Name auf Deutsch »Hartes Herz« bedeutet, der von seinem Sachbearbeiter beim Arbeitsamt »mit einer der vielen Stimmen, durch die die Macht auf den Abzug drückt«, angesprochen wird und der sich nicht traut, seiner Familie von seiner Kündigung zu erzählen.
Spätestens mit der Geschichte »Die Unbeugsamen« im zweiten Abschnitt, der mit dem Wort »Streit« überschrieben ist, entfaltet sich der Sog von Bayraktars Erzählung. Die Geschichte hat keine Satzzeichen, die Satzanfänge werden durch einen Großbuchstaben markiert. Syntax und Sprache erinnern an Nanni Balestrinis Roman »Der Verleger« über den linken italienischen Verleger Giangiacomo Feltrinelli.
In Bayraktars Erzählung berichtet eine namenlose Erzähler*in von einer Hausbesetzung, die von der Polizei gewaltsam aufgelöst wird. Das Gerichtsurteil gegen sie nimmt die erzählende Person als Anlass, um unterzutauchen. »Wir sind nicht viele aber wir sind viele Irgendjemand reicht dir immer die Hand wenn du in der Scheiße steckst So habe ich das gelernt«.
Bei so vielen Schicksalen sind es gerade die Momente des Kampfes, in denen die Figuren beweisen, dass es anders geht, die einen aufatmen lassen. Einerseits zeigt sich, wie Menschen an der Gewalt der Gesellschaft zugrunde gehen. Bayraktar arbeitet aber auch die kleinen Risse in der Realität ein, in denen sich für so manchem ein Zwischenraum auftut, in dem er sich zu seinem Elend verhalten kann.
Hin und wieder treten Bayraktars Charaktere auch in einen Dialog mit sich selbst. Der Autor gibt ihnen die Zeit für kostbare Momente, in denen sich die kleinen Existenzen für einen Augenblick ins große Ganze fügen. Diese Momente werden von reflektierenden Neben- und Hauptsätzen begleitet, in denen ein allwissender Erzähler hervortritt.
Die reflektierenden Passagen, in denen die Erzählstimme die Situation der Protagonist*innen einordnet, ist die große Stärke des Erzählbandes. Teilweise wendet sich diese Stärke aber auch in ihr Gegenteil. Immer dann, wenn zu viel Weltwissen ausgebreitet und die Distanz zu den Protagonist*innen, etwa in der Erzählung »Die Sommernachtsträumerin«, zu groß wird, verliert sich der Erzähler in der Weite der Bedeutung.
Bayraktar nimmt seine Charaktere jederzeit ernst. Nicht allein mit dem, was sie sind, sondern auch mit ihren Träumen, Hoffnungen und Wünschen. Es zeigt sich: Die Menschen in den Geschichten sind auch all das, was sie nicht sind, das, was sie gerne wären, wenn sich nicht zwischen sie und ihren Traum die Unterdrückung und Ausbeutung des Kapitalismus schieben würde.
»Die Lage« ist ein Wimmelbild der enttäuscht Hoffenden, der kämpfend Unterdrückten, der vergeblich Liebenden, auf der Suche nach Selbstbestimmung, in einer Welt, die gegen sie gerichtet ist. Und Mesut Bayraktar ist ein Meister darin, der sozialen Gewalt ihr alltägliches Kostüm zu nehmen. »Wenn ich einmal seufze, dann brechen die Berge vor mir zusammen.«
Mesut Bayraktar: Die Lage. Autumnus-Verlag, 312 S., geb., 19,95 €.
Die Menschen in den Geschichten sind auch all das, was sie nicht sind, das, was sie gerne wären.
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