Der Arbeiterklasse hat es die Sprache verschlagen

Slave Cubela rekonstruiert die Geschichte der modernen Arbeiterklassen im Ringen um den richtigen Ausdruck für ihr Leiden im Kapitalismus

Der Kampf der Arbeiterklasse ging im 20. Jahrhundert in Idealisierung über, wurde Teil der Herrschaft und dann schließlich entsorgt – wie das heroische Wandgemälde zum Uranbergbau.
Der Kampf der Arbeiterklasse ging im 20. Jahrhundert in Idealisierung über, wurde Teil der Herrschaft und dann schließlich entsorgt – wie das heroische Wandgemälde zum Uranbergbau.

Die Kämpfe um Arbeit nehmen wieder zu. Neoliberale und konservative Stimmen fordern, dass mehr und länger gearbeitet wird. Linke und Gewerkschaften plädieren für weniger Plackerei und mehr Lohn. Die IG Metall hat mit der Forderung nach einer Vier-Tage-Woche vorgelegt, die Gewerkschaft der Lokführer GDL hat sie in Teilen durchgesetzt. Man könnte meinen, der Klassenkampf sei zurück – also nicht der von oben, sondern von unten.

So einfach ist es aber nicht. Denn im Gegensatz zu früheren Epochen der Arbeitskämpfe finden sich seit Jahrzehnten kaum noch Worte für das von Ausbeutung und Arbeitszwang hervorgerufene Leid. Der Begriff Klassenkampf selbst ist zu einer leeren Worthülse geworden. Diese Sprachlosigkeit ist auch der Anlass für das neue Buch »Wortergreifung, Worterstarrung und Wortverlust« des Gewerkschafters und Publizisten Slave Cubela, der dieser Entwicklung in der Arbeiter*innenbewegung nachgeht und seinen Zugang als traumatologischen Marxismus bezeichnet. Denn er hält zwar an den Marx’schen Kategorien fest, aber sein Blick folgt nicht nur den objektiven Strukturen der Gesellschaft, sondern in erster Linie den »Verletzungs-, Schmerz- und Leidspuren« der Arbeits- und Produktionsbedingungen.

Arbeiter*innen nehmen sich das Wort

Cubela teilt für diese Rekonstruktion die Arbeiter*innenbewegung in drei Phasen ein: die Epoche der Wortergreifung im 19. Jahrhundert, der Worterstarrung im 20. und die des Wortverlusts im endenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert. In der ersten Phase der Wortergreifung sei der Klassenbegriff noch Ausdruck konkreter Leiderfahrungen der Arbeiter*innen gewesen, die sie im Produktionsprozess machten. Über die Kollektivierung und Versprachlichung des Leids in geteilten Räumen wie Fabriken und Kneipen entstand ein gemeinsames Bewusstsein von der eigenen sozialen und ökonomischen Lage im Kapitalismus. »Mit dem Begriff wurden Alltagssolidaritäten übersetzt«, betont Cubela im Gespräch mit »nd« über sein neues Buch.

Das Leid wurdezu einer auszuhaltenden Erfahrung,und die Utopievom Ende der Arbeit erschöpfte sich zusehends.

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Von jener Hochzeit der sozialistischen Arbeiter*innenbewegung aus, die von der Hoffnung auf eine Überwindung des Kapitalismus geprägt war, beschreibt Cubela eine ambivalente Entwicklung: Ab dem 20. Jahrhundert hält ein Fortschrittsdenken in den Organisationen der Arbeiter*innenbewegung Einzug. Sie werden wissenschaftsgläubig und produktivistisch. Nicht das Ende der Arbeit, sondern ihre Bejahung wurde zum Leitmotiv. »Die Überzeugung war: Wir müssen durch die Phasen des Kapitalismus durch, und dann wartet die befreite Welt auf uns«, fasst Cubela die Entwicklung zusammen. Dadurch wurde das Leid zu einer auszuhaltenden Erfahrung, und ihr revolutionäres Potenzial, die Utopie vom Ende der Arbeit, erschöpfte sich zusehends.

Die Begriffe der Arbeiter*innenbewegung wurden institutionalisiert und erstarrten. Der Klassenbegriff wandelte sich vom lebendigen Ausdruck der Alltagsrealitäten der Arbeiter*innen zu einem starren Gerüst, das in Leerformeln – nicht nur in der Sozialdemokratie, sondern auch in den kommunistischen Parteien und in der Sowjetunion – mantraartig wiederholt wurde. Es gab sie zwar immer, die Wortergreifungsversuche von unten, die wilden Streiks, die gegen die Arbeit gerichtet waren. »Aber auf oberer Ebene wurden sie kanalisiert.« Disziplin und Einheit der Arbeiterklasse wurden zu Dogmen der zusehends erfolgreichen Organisationen.

Integration ins Herrschaftsgefüge

In diese Epoche der Worterstarrung fällt auch der Aufstieg des Faschismus und Nationalsozialismus. Nicht nur, dass die sozialistische Fortschrittsgläubigkeit an der nationalsozialistischen Barbarei, an Vernichtungskrieg und Shoah zerschellte. Auch praktisch zeigte sich, dass die Organisationen der Arbeiter*innenbewegung nicht mehr so stark in der Lebenswelt verankert waren, wie ihr machtpolitischer Erfolg nahelegte. Im Faschismus und Nationalsozialismus wurden die führenden Köpfe der Arbeiter*innen verfolgt, der Widerstand brutal zerschlagen und schlussendlich die Arbeiter*innenschaft in die politischen Herrschaftsgefüge integriert – in Deutschland ideologisch und praktisch besonders erfolgreich, mit anhaltender Wirkung über die Zeit des NS hinaus.

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Dennoch blieb er in Nischen bestehen, der wilde Protest gegen die Leiderfahrung an der Arbeit. Nur ging die Schere zwischen Erleben und erstarrten Begriffen im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts immer weiter auseinander. Das hing mit dem Aufschwung der Nachkriegszeit zusammen. »Es war eine Sackgasse, das erste Mal stand für die europäischen Arbeiter ein Wohlstandsgewinn an«, betont Cubela. Dieser wurde durch einen produktivistischen Konsumismus erkauft. »Da steckt eine Tragödie drin«, weil ein anderer Weg kaum aussichtsreich war. Nur kurzzeitig schienen die Protestbewegungen Anfang der 70er Jahre und die teils wilden Streiks migrantischer Arbeiter*innen einen Ausweg aus der Sackgasse aufzuzeigen. »Es fand eine Wortergreifung statt, die aber an den starren Strukturen der Arbeiterbewegung zerbrach«, erklärt Cubela.

Und mit einem erneuten epochalen Umbruch des Kapitalismus ging auch diese Ära zu Ende: Der Neoliberalismus verwandelte die Produktionsstätten. Sie wurden zu fluiden Fabriken: autoritär, flexibel, mit neuen Digitalitäten, dynamischen Prozessen und Arbeitsverhältnissen. Proletarische Alltagskulturen in den Wohngebieten und Kneipen starben aus. Die nun einsetzende Welle von Arbeitsleid ist anders als die zuvor erlebten, stellt Cubela fest. Sie wird verinnerlicht und ein Aufbegehren gegen äußere Zwänge so zunehmend unwirksam. Die Folge: Wortvertlust. Denn was blieb den Arbeiter*innen noch, um ihre Leiderfahrung zu artikulieren?

Neuer Ausdruck für den Klassenkampf

Die zunehmende Sprachlosigkeit aber bedeutet keineswegs, dass auch das Leiden verschwunden ist. Nur ist die Konstellation komplex: Die Individualisierung des Leids und die Trennung zwischen den verschiedenen Fraktionen der Arbeiter*innenklasse sind weit fortgeschritten. Da sind die relativ gut abgesicherten Stammbelegschaften in den kapitalistischen Zentren. Dann gibt es prekär beschäftigte Arbeiter*innen, die auf den Aufstieg hoffen. Und schließlich fristen die Abgehängten ein Dasein ohne Perspektive auf Verbesserungen und Sicherheit. Es sind migrantische Arbeiter*innen, viele illegalisiert, die sich in hochgradig irregulären Verhältnissen verdingen.

»Die versuchen sich einen Reim darauf zu machen, was sie vorfinden, und nutzen dafür die Sprache, die sie haben«, sagt Cubela. Dass es zunehmend eine der Religion und nicht der Solidarität ist, liegt auch daran, dass es der Arbeiter*innenbewegung die Sprache verschlagen hat. Die Renaissance des Klassenbegriffs, die sich derzeit beobachten lässt, ist dagegen ein zaghafter Versuch, die zunehmende soziale Ungleichheit wieder auf einen Begriff zu bringen. Sie taugt jedoch nur zur Übersetzung, wenn sich darin reale Leiderfahrungen der Arbeiter*innen ausdrücken, die nicht einfach unter abstrakte Kategorien gefasst werden können.

Das Leid und dessen verstellte Erscheinungsform muss sorgfältig entschlüsselt werden. Geschieht das nicht, geht die Wortergreifung fehl. Das zeigt sich im gegenwärtigen Revival des orthodoxen Marxismus: Die Unterordnung der Lebenswelt unter dogmatische Kategorien und der autoritäre Durchgriff, wie er mit dem Leninismus verknüpft ist, scheinen verführerisch. Denn es braucht schnelle Lösungen, und die Ungeduld ist groß. Doch wiederholt sich mit den hohlen Phrasen der Orthodoxie nur die Trennung zwischen Alltag und erstarrten Begriffen, ist Cubela überzeugt.

Wie also formulieren die Arbeiter*innen heute ihre Alltagserfahrungen? Aus der Antwort, so der Appell des Buches, könnten neue Möglichkeiten der Wortergreifung entstehen. Das ist eine Perspektive von unten, die den Eigensinn der Lohnabhängigen in den Blick nimmt und die einer Linken etwas entgegensetzen kann, die vergessen zu haben scheint, wie der Arbeitsprozess die Menschen und ihre Erfahrungen prägen. Eine solche Perspektive könnte in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen um Arbeit den Klassenkampf von unten sichtbar machen. Oder wäre auch das nur ein verstellter Ausdruck der Leiderfahrungen an der Arbeit? Eine Frage, die sich mit dem Buch von Cubela zwar nicht abschließend beantworten, aber doch neu stellen lässt.

Slave Cubela: Wortergreifung, Worterstarrung, Wortverlust. Industrielle Leidarbeit und die Geschichte der modernen Arbeiterklassen. Westfälisches Dampfboot 2023, 424 S., br., 48 €.

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