- Politik
- Pieck und Adenauer
Alte Männer in neuer Zeit
Wilhelm Pieck und Konrad Adenauer einte ihr Alter, sonst hätten sie aber unterschiedlicher nicht sein können
»Nicht die Jungen, sondern die Alten hatten nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Chance«, so Gerd Dietrich im ersten Band seiner »Kulturgeschichte der DDR«. Ost- und Westdeutschland seien dominiert gewesen von alten Männern und Elitegründungen im Geiste der Weimarer Politikergeneration. Es sei sicher ein Zufall gewesen, jedoch ein Zufall, der keineswegs Zufälliges transportierte, dass im Herbst 1949 zwei 73-jährige Politiker maßgeblich deutsche Geschichte schrieben. »Zwei Politiker, die eigentlich schon in ihrem Lebensabend standen und deren große Stunde erst nach 1945 gekommen war« – in Bonn Konrad Adenauer und in Ostberlin Wilhelm Pieck. Wie der Historiker Dietrich konstatiert, waren beide Vertreter einer Generation, der »Wilhelminer« (benannt nach dem letzten Kaiser), die ihre Sozialisation noch vor der Jahrhundertwende erfahren hatte.
Und doch hätten Pieck und Adenauer nicht gegensätzlicher sein können. Hier der gelernte Tischler und Kommunist, Mitbegründer der KPD und vor 1933 Abgeordneter des Reichstags und des Preußischen Landtags, später dann Chef der KPD im Moskauer Exil. Dort der studierte Jurist und Volkswirt, konservativ durch und durch. Vor Hitlers Machtantritt war Adenauer Oberbürgermeister von Köln und einer der führenden Zentrumspolitiker, fest verwurzelt im rheinisch-katholischen Großbürgertum. Während der NS-Zeit bekam der eine Hausarrest bei den Nazis, der andere lebte respektive überlebte im Moskauer Hotel »Lux«.
Worin sich Pieck und Adenauer aber vor allem unterschieden: Der eine hatte Einfluss, der andere Macht. Während der erste und einzige Präsident der DDR nur repräsentative Aufgaben wahrnahm, verfügte der westdeutsche Bundeskanzler tatsächlich über politische Gestaltungsmacht. Doch wie erklärt sich diese Sehnsucht nach dem Übervater? Die Nationalsozialisten waren eine relativ junge Bewegung gewesen, die auf allen Gebieten den Fortschritt versprochen hatte. Eine Zukunft, von der die Deutschen nach dem Krieg genug hatten, nach dem Motto: Der Führer ist tot, es lebe der gerechte König!
Während der NS-Zeit bekam der eine Hausarrestbei den Nazis, der andere überlebte im Moskauer Hotel »Lux«.
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Was die Westdeutschen betraf, ging Adenauers Führungsanspruch einher mit einer merkwürdig frömmelnden Rückbesinnung auf die »christlich-abendländische Kultur«, so der Jenaer Historiker Dietmar Süß. Vaterland und Abendland waren wieder in Gefahr, und Unbill drohte von allen Seiten: von der Moderne, der »Vermassung« der Deutschen, dem neuen Moloch Technik, dem Individualismus im Westen, und, wie zu erwarten: vom Bolschewismus im Osten!
Zur Kehrseite dieser Rückbesinnung gehörte eine enorme Verdrängungsleistung: Tatsächlich gelang es der Adenauer-Politik, das antifaschistische Narrativ der unmittelbaren Nachkriegszeit – siehe etwa das Ahlener Programm der CDU – binnen weniger Jahre durch ein antitotalitäres Narrativ auszutauschen. Das Gros der westdeutschen Bevölkerung, das, wie die ostdeutsche, Hitler bis zum letzten Tag die Treue gehalten hatte, wollte fortan nicht nur in Wohlstand und Frieden leben, die Deutschen wollten auch von der Last der NS-Vergangenheit befreit oder wenigstens mit ihrer jüngeren Geschichte versöhnt werden: Man habe ja nichts wissen können, und die Russen wären auch nicht besser, und überhaupt, es habe auch Deutsche unter den Opfern gegeben. Die Deutschen wollten sich in ihrer historischen Haut wieder wohlfühlen. Eben diese Stimmung wusste Adenauer geschickt für seine Ziele zu nutzen.
Politisches Handeln und staatliche Souveränität waren für ihn nur als Folge der Westintegration denkbar, wozu nicht zuletzt der Aufbau einer »neuen Wehrmacht« gehörte. Wollte Adenauer einer Regierung vorstehen und keiner Verwaltung, so musste er gegenüber den westlichen Besatzungsmächten als verlässlicher Partner auftreten – wohl wissend, dass sich deren Interesse an einer Wiedervereinigung der Deutschen buchstäblich in Grenzen hielt. Regieren in Bonn hieß daher zwangsläufig Forcierung der deutschen Teilung. Eine solche Politik war den Wählern aber nur schwer vermittelbar; ein Bekenntnis Adenauers zur Spaltung hätte die SPD stark gemacht und natürlich auch die Kommunisten in der Ostzone – Gott bewahre! –, daher das redundante Beschwören der sowjetischen Gefahr. Das große sinnstiftende Moment der Adenauer-Ära (Stichwort: KPD-Verbot), die historische Konstante der deutschen Rechten im 20. Jahrhundert: der Antikommunismus, er diente jetzt in all seinen Facetten der Legitimierung der Bonner Politik der Westintegration. Adenauer konnte auf den Westen nur zugehen, wenn er den Osten, die »Sowjetzone«, zurückließ. Davon aber war im Wahlkampf für den ersten Deutschen Bundestag 1949 keine Rede gewesen, ebenso wenig von Militär und Wehrpflicht.
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Und die DDR? Hass und Propaganda blieben selbstredend nicht auf die westdeutsche Seite beschränkt. Nur zur Erinnerung: Auf der 2. Parteikonferenz, die vom 9. bis zum 12. Juli 1952 in der Ostberliner Werner-Seelenbinder-Halle abgehalten wurde, sprach Parteichef Walter Ulbricht (Adenauers eigentlicher Gegenpart) vom »nationalen Befreiungskampf gegen die amerikanischen, englischen und französischen Okkupanten« und vom »Terror der Adenauer-Regierung« sowie von der »besonderen Bedeutung des Studierens der Werke des Genossen Stalin und seiner Biografie im Selbststudium«. Und auch in der DDR übten sich die Leute in der Verdrängung ihrer Geschichte. Nur eine Minderheit der SED-Mitglieder hatte schon vor 1933 der KPD oder wenigstens der SPD angehört; die übergroße Mehrheit an der Parteibasis waren Männer und Frauen, die bei der Entrechtung und Verfolgung jüdischer Menschen zugeschaut und den Krieg verloren hatten – auf einmal standen sie bei den Siegern der Geschichte, mit einem Wilhelm Pieck als großer Identifikationsfigur.
Eine geschichtswissenschaftliche Biografie über das erste DDR-Staatsoberhaupt fehlt bis heute. So ist denn die Frage immer noch unbeantwortet, inwieweit sich Wilhelm Pieck im Moskauer Exil für jene Genossen eingesetzt hat, die von den »Säuberungen« betroffen waren. Ihre Zahl lässt sich nur schätzen. Der Historiker Marcel Bois verweist auf die Arbeitsgruppe »Deutsche Antifaschisten im sowjetischen Exil« bei der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten. Diese habe die Namen von 8011 Deutschen ermitteln können, die sich zwischen 1936 und 1945 in der Sowjetunion aufgehalten haben. »Von ihnen wurden 1019 erschossen.« Vom Schicksal dieser Menschen wurde bis 1989 kaum etwas bekannt. Stattdessen pflegte die DDR das Gedenken an den 1960 verstorbenen Präsidenten.
Erich Honecker, den die Nazis im Zuchthaus Brandenburg-Görden eingesperrt hatten, erinnerte sich immer gern an die Aufbruchszeit und »an den Moment als die Tür aufging und ein Mann hereintritt, dessen Name ein Begriff der Treue und des Fortschritts ist: Wilhelm Pieck. Breit und stämmig, das Haar ergraut, mit klug und freundlich blickenden Augen unter buschigen Brauen. Ja, das ist er.« Den angehenden FDJ-Chef durchströmte eine »freudige Erregung« bei der Gewissheit, hier einem Manne urplötzlich gegenüberzustehen, »in dessen Person sich die besten Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung verkörperten«.
In ebendieser Tradition waren Demokratie und Sozialismus lange Zeit kein Widerspruch gewesen. Für das freie und allgemeine Wahlrecht hatte die Arbeiterbewegung viele Jahrzehnte gekämpft. In der Amtszeit des Präsidenten Wilhelm Pieck stimmten die Leute dann auch jeden Tag ab – mit den Füßen: Während 1951 rund 166 000 Menschen die Republik in Richtung Westen verließen, waren es 1952 sogar 182 000 Flüchtlinge. Das, obwohl die SED-Führung in Absprache mit der sowjetischen Besatzungsmacht am 26. Mai 1952 die Grenze zur BRD hatte abriegeln lassen. Eine fünf Kilometer breite Sperrzone mit Stacheldraht war geschaffen worden, sodass als einzige offene Fluchtmöglichkeit nur noch Westberlin geblieben war. Doch der Exodus nahm kein Ende. Allein im März 1953 wurden 59 000 Flüchtlinge registriert. Der 17. Juni 1953 und die Niederschlagung der Proteste forcierte noch einmal die Massenflucht. – Vor diesem Hintergrund zu sagen, der DDR-Präsident habe in der Bevölkerung große Popularität genossen, ähnlich wie Adenauer im Westen, wird den Verhältnissen im Land nicht gerecht.
Das Faktum bleibt: Adenauers Macht war aus freien Wahlen hervorgegangen, Wilhelm Pieck verdankte seine politische Stellung letzten Endes der Sowjetarmee. Beide waren sie alte Männer, die die Zukunft in der verklärten Vergangenheit suchten: Pieck bei den siegreichen Bolschewiki und der Oktoberrevolution und Adenauer in der guten alten Zeit, als Anstand, Sitte und Moral noch etwas zählten.
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