Netanjahus Werbetour in Washington lässt Menschen in Israel kalt

Angehörige der Geiseln fordern umgehend ein Abkommen mit der Hamas

Jonathan Dekel-Chen, dessen Sohn Sagui Dekel-Chen von der Hamas als Geisel festgehalten wird, spricht nach einem Treffen von Angehörigen der Geiseln mit US-Präsident Joe Biden und dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu im Weißen Haus in Washington zur Presse.
Jonathan Dekel-Chen, dessen Sohn Sagui Dekel-Chen von der Hamas als Geisel festgehalten wird, spricht nach einem Treffen von Angehörigen der Geiseln mit US-Präsident Joe Biden und dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu im Weißen Haus in Washington zur Presse.

Die minutenlangen Ovationen für Benjamin Netanjahu wurden von einigen israelischen TV-Sendern am vergangenen Wochenende immer wieder gezeigt. Vor den Abgeordneten des Kongresses in Washington hatte der israelische Premierminister eindringlich an die enge amerikanisch-israelische Freundschaft erinnert. Demokratische und republikanische Abgeordnete standen mehrmals auf, als »Bibi« an den gemeinsamen Feind erinnerte. »Der Iran will den radikalen Islam in der Welt verbreiten«, sagte der in der Heimat Umstrittene, gegen den das Den Haager Weltstrafgericht bald einen Haftbefehl wegen israelischer Kriegsverbrechen ausstellen könnte.

Mitten in der jubelnden Menge saßen Angehörige von in den Gazastreifen entführten Geiseln. Sie blieben stumm sitzen, ihre Gesichter erstarrt. »In ihren Blicken sieht man, dass sie in diesem Moment die Hoffnung auf einen Abkommen mit der Hamas innerlich aufgegeben haben«, sagt Hannah Narkis. Die pensionierte Lehrerin sitzt zusammen mit ihren Freundinnen auf der Terrasse des Künstlerhaus in der Schmu`el ha-Nagid-Straße, einem Treffpunkt der liberalen Szene von Jerusalem. »Amerikanische Politiker mögen darüber hinwegsehen, dass Netanjahu in Washington die Freilassung der in Gaza verbliebenen 111 Geiseln nur am Rande erwähnte«, sagt die 70-Jährige wütend, »aber hier werden es ihm viele nicht verzeihen.«

In Leichensäcke verpackte Geiseln

An den Tischen ist nicht der überraschend freundliche Empfang der großen israelischen Delegation in der amerikanischen Hauptstadt das Thema, sondern stille Bilder, die eigentlich niemand sehen sollte. Ein auf sozialen Medien geteilter Videoclip zeigt den Abtransport von fünf in Leichensäcke verpackten toten Geiseln. Die Gruppe von vier Soldaten und einer Zivilistin war seit dem 7. Oktober in einem Tunnel bei Khan Junis festgehalten worden. Am vergangenen Mittwoch hatten Soldaten der 98. Division und Spezialisten des Geheimdienstes Shin Bet die Toten bei einer Suchaktion entdeckt. Das Versteck der Geiseln hätten gefangengenommene Hamas-Kämpfer verraten, so ein Armeesprecher am Donnerstag.

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Ein Reservist der israelischen Armee hatte die Bergung der Leichen gefilmt und auf sozialen Medien geteilt. Er wurde danach zu zehn Tagen Gefängnis verurteilt und aus dem Reservedienst entlassen. Das harsche Urteil zeigt, wie angespannt die öffentliche Meinung über den Gaza-Krieg in Israel mittlerweile ist. Weil das Video im ganzen Land geteilt wurde, bevor die Opfer identifiziert waren, stehen nach monatelanger Ruhe einmal mehr die Angehörigen Geiseln im Fokus der Medien. Denn das Video aus Khan Junis widersprach diametral einer Aussage von Netanjahu, die bereits vor seiner Abreise für Aufsehen sorgte. »Der Krieg ist erst dann vorbei, wenn die militärische Führung der Hamas besiegt ist«, so der Premier. Und: »Die Geiseln leiden, aber sie sterben nicht.«

Krieg im Alltag kaum zu spüren

Gut informierte Quellen in Jerusalem vermuten gar, dass nur noch 45 Hamas-Geiseln am Leben seien. Doch die Angehörigen wollen sich nicht länger auf die Versprechen des Premiers verlassen. Vor dessen Abreise hatte bereits eine Delegation von Angehörigen dem außenpolitischen Komitee des US-Kongresses ihre Forderungen präsentiert. »Nur mit einem Waffenstillstandsabkommen können wir die Geiseln lebend retten«, sagte Jonathan Dekel-Chen, dessen Sohn Sagui seit dem 7. Oktober an unbekanntem Ort festgehalten wird. »Jeder wahre Freund von Israel muss auf Premierminister Netanjahu Druck ausüben, jetzt und nicht später einem Abkommen zur Freilassung der Geiseln zuzustimmen. So wie es unsere militärische Führung doch schon länger fordert.«

»Jeder wahre Freund von Israel muss auf Premierminister Netanjahu Druck ausüben, jetzt und nicht später einem Abkommen zur Freilassung der Geiseln zuzustimmen.«

Jonathan Dekel-Chen Vater einer Geisel in Händen der Hamas

In Israel wird zwar weiterhin kaum Kritik am Krieg gegen die Hamas laut, doch die Stimmen für ein Ende mehren sich. Netanjahus bei einem Treffen mit Joe Biden und Donald Trump wiederholte Strategie macht vielen sogar Angst. Sie fürchten, dass der von seinen nationalistischen Bündnispartnern gefordete Angriff auf den Iran und die Einverleibung des Westjordanlandes und Gazas die Zeit der Terroranschläge zurückbringen würde. Derzeit ist im Alltag von Tel Aviv, Haifa oder Jerusalem vom Krieg in Gaza und der angespannten Situation im Westjordanland kaum etwas zu spüren. Zwar kommt es vereinzelt zu Angriffen von palästinensischen Einzeltätern, aber die Cafés und Restaurants sind bis spät in die Nacht gut gefüllt.

Netanjahu instrumentalisiert USA-Reise

Netanjahu nutzte seine Rede in Washington dazu, den Tonfall gegen seine Gegner noch weiter zu verschärfen. Die vor dem Kongress in Washington und in Tel Aviv gegen ihn Demonstrierenden nannte er willfährige Gehilfen des Iran, ein erneuter Schockmoment für die Familienangehörigen auf den Zuschauerrängen. Die frühere demokratische Vorsitzende des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, bezeichnete Netanjahus Rede später als »den bei weitem schlechtesten Auftritt eines ausländischen Würdenträgers, der das Privileg gehabt hat, vor dem US-Kongress zu reden«.

Doch Netanjahu ist nicht alleine. Die ehemaligen Geisel Noa Argami und ihm wohlgesonnene Geiselangehörigen waren Teil seiner Delegation, die heimischen Medien feiern die Reise als Erfolg.

Stiller Protest gegen den Krieg

Ein Spaziergang durch Jerusalem zeigt indessen, dass die letzten neun Monate Israel verändert haben. An Bushaltestellen und Häuserwänden hängen Traueranzeigen von jungen Reservisten, die bei den Kämpfen in Gaza gestorben sind. Sie verdrängen immer mehr die vergilbten Fotos der in den Gazastreifen entführten Geiseln. Passanten schauen schweigend auf die Bilder der toten Soldaten. Es wirkt wie ein stiller Protest gegen den Krieg. An mobilen Ständen werben Freiwillige für Lebensmittelspenden an Reservisten, die an der Grenze zum Libanon seit Monaten im Dauereinsatz sind.

Als Sicherheitsminister Itamar Ben Gwir während Netanjahus USA-Reise wieder einmal in die für Muslime offenen Bereiche der Al-Aksa-Moschee auf dem Tempelberg eindringt und diese zukünftig auch für Juden reklamiert, herrscht selbst im Regierungslager Empörung. »Die ewigen Provokationen werden wir mit einer Wirtschaftskrise und einer Terrorwelle bezahlen, nicht die Politiker«, sagt eine Bekannte von Hannah Narkis. Sie schaut sich eine Rede der amerikanischen Präsidentschaftskandidatin Kamela Harris an, die Netanjahus Reise aus ihrer Sicht am besten zusammenfasst: »Die humanitäre Lage in Gaza ist erschütternd. Wir dürfen nicht weiter wegschauen.«

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