Die Cartilla escolar antifascista

Wandel in der Erinnerungspolitik: In Spanien wurde eine antifaschistische Schulfibel von 1937 wieder aufgelegt

  • Werner Abel
  • Lesedauer: 6 Min.

Im April 1937 erschien in Valencia, herausgegeben vom Ministerio de Instrucción Pública y Bellas Artes der spanischen Volksfrontregierung in einer Auflage von 25 000, danach in einer zweiten Auflage mit 150 000 Exemplaren eine Broschüre mit dem Titel »Cartilla escolar antifascista« (»Antifaschistische Schulfibel«), die 80 Jahre später in der Digitalen Bibliothek der Europäischen Union in die 15 repräsentativsten grafischen Werke Spaniens aufgenommen wurde. Das Ministerium für Volksbildung, das unter der Leitung des Politbüromitglieds der KP Spaniens (PCE) Jesús Hernandez stand, verfolgte mit der Publikation eine doppelte Absicht: Zum einen sollte die Fibel helfen, den Analphabetismus zu überwinden, der zum Beispiel gerade bei den jungen Rekruten der Volksarmee, die aus den ländlichen Gegenden kamen, besorgniserregend war. Zum anderen sollte das Erlernen von Lesen, Schreiben und Rechnen verknüpft werden mit der Vermittlung von Kenntnissen über die Republik, den Zielen der Volksfront und der Notwendigkeit des Kampfes gegen die Franco-Faschisten.

Die Kampagne umfasste pädagogische Missionen in ländlichen Gebieten und vielfältige Lektionen an der Front. Die Hauptaufgabe fiel den Kulturmilizen zu, die keine militärischen Einheiten waren und wurden geleitet von Wenceslao Roces, Professor für Römisches Recht an der Universität von Salamanca, Verleger und Übersetzer, César Garcia Lombardia, Generaldirektor für Grundschulbildung und Generalinspekteur der Kulturmilizen, sowie Josep Renau, Plakatkünstler, Wandmaler und Generaldirektor für Bildende Künste, der übrigens später viele Jahre in der DDR lebte und arbeitete.

Die Volksbildung war ein bedeutender Teil des gesellschaftlichen Wandels, dem sich die Parteien der Volksfront gleichermaßen als primäres Anliegen gesetzt hatten, das auch unter Kriegsbedingungen nicht außer Acht gelassen wurde. Die »Cartilla« nahm hierbei mit ihrer völlig neuen Lehrmethode einen hervorragenden Platz ein. Jede Übung begann mit einem Satz, der analysiert und in seine Wörter, Silben und Buchstaben zerlegt werden sollte, aus denen man dann neue Wörter und Sätze bildete.

Die Texte der Fibel verfasste der Grundschulinspekteur Fernando Sánz und der Journalist Eusebio Cimorra, illustriert wurde sie von Aufnahmen der Fotografen José Val del Omar und José Calandín. An der zweiten Auflage war dann auch der aus Deutschland nach Spanien emigrierte Fotograf Walter Reuter beteiligt. Mit weiteren Illustrationen wurde die Schulfibel zudem durch Mauricio Amster Cats versehen, dem wohl bedeutendsten Grafik-Designer jener Zeit, der 1907 als Sohn jüdischer Eltern in Lemberg, dem heutigen Lviv, geboren worden ist und die Buchgestaltung in Spanien sowie später in Chile revolutionieren sollte.

Amster war 1930 dem Ruf seines Freundes und Landsmanns Mariano Rawicz gefolgt, der 1908 ebenfalls in Lemberg geboren worden ist, dort, in Krakau und Leipzig Grafik und Buchkunst studiert hatte und seit 1929 in Spanien lebte. Beide, Rawicz und Amster sahen für sich als Linke keine Arbeitsmöglichkeiten im reaktionären Polen und begannen in Spanien als Buchgestalter und Übersetzer für progressive Verlage wie Cenit, Ulisses, Hoy, Dédalo, Renacimiento und Aguilar zu arbeiten. Rawicz gründete sogar eine Bildagentur, die hauptsächlich Fotos sowjetischer Agenturen in Spanien vertrieb. Mit ihm nach Spanien war seine Schwester Stefania (Stepa) gekommen, die später den Offizier der Volksarmee José de la Fuente heiratete.

Amster und Rawicz traten in die PCE ein. Rawicz war 1934 aus Spanien ausgewiesen worden, weil er sich mit den aufständischen asturischen Bergarbeitern solidarisiert hatte. Er konnte erst mit dem Sieg des Linksbündnisses im Februar 1936 nach Spanien zurückkehren. Nach dem Putsch stellten sich beide Freunde der Volksfront-Regierung zur Verfügung. Amster wollte in die Volksmilizen eintreten, wurde aber aufgrund seiner Kurzsichtigkeit nicht genommen. Er beteiligte sich aber an der Überführung des Nationalen Kunstschatzes von Madrid nach Valencia, wohin die republikanische Regierung vor den Franco-Faschisten fliehen musste.

Amster und Rawicz wurden ins Unterstaatssekretariat für Propaganda des Ministeriums für Volksbildung und Schöne Künste berufen, wo Amster die antifaschistische Schulfibel entwarf, bevor er nach Barcelona umzog, wo er die Buchbinderin Adina Amenedo heiratete und Ernst Busch bei den Aufnahmen seiner »Canciones de las Brigadas Internacionales« (Lieder der Interbrigadisten) unterstützte und wohl auch die Umschläge der Liederbücher entwarf.

Busch war zu dieser Zeit mit der deutschen Schriftstellerin Maria Osten liiert, die zuvor mit dem berühmten sowjetischen Journalisten Michail Kolzow befreundet gewesen war. Kolzow, der als Vertrauter Stalins in Spanien galt, hatte nach einer Denunziation von André Marty, Schweizer Journalist und Vorsitzender der Militärpolitischen Kommission der Internationalen Brigaden, das Vertrauen Stalins verloren. Marty hatte Maria Osten verdächtigt, eine Agentin des faschistischen Deutschlands zu sein. Das führte dazu, dass die KPD-Abwehr in Spanien Maria Osten und deren Umgebung, also auch Ernst Busch, klandestin überwachte. Dieses Misstrauen übertrug sich auch auf Amster und wurde vom republikanischen Geheimdienst geteilt.

Amster und Rawicz hatten Freunde, die dem PCE als suspekt galten. Rawicz hatte überdies in den Augen der PCE-Funktionäre einen kapitalen Fehler gemacht: Im guten Glauben, der Republik auch im Ausland zu helfen, hatte er mit der polnischen Journalistin Sophia Kramstyk und dem sudetendeutschen, schon lange in Spanien lebenden und mit Egon Erwin Kisch befreundeten Dramatiker und Journalisten Wilhelm Tieze die deutschsprachige »Spanische Illustrierte« gegründet. Ein gleiches Projekt hatte aber auch der PCE im Auge – dessen Leitung sollte der deutsche Interbrigadist Kurt Stern übernehmen. Dieser reagierte freilich verärgert bei der Feststellung, dass Rawicz und seine Freunde schon ein fertiges Projekt vorweisen konnten. Da das ohne die Billigung des PCE geschehen war, kolportierte nun auch Stern den Vorwurf des »Trotzkismus«. Mehr noch: Auch Stepa Rawicz, die jeweils halbtags im Ministerium für Propaganda und bei der Postzensur arbeitete, wurde unterstellt, sie habe »trotzkistische Post« durchgehen lassen. Da sich Amster nicht von Rawicz distanzieren wollte, wurden beide aus dem PCE ausgeschlossen. Ihr Protest dagegen zog sich bis zum Ende der Republik hin.

Zu den vielen Bekannten Amsters gehörten Rafael Alberti und seine Lebensgefährtin María Teresa León, beide Mitglieder der Asociación de Intelectuales Antifascistas para la Defensa de la Cultura (Assoziation antifaschistischer Intellektueller zur Verteidigung der Kultur), die wie er nach der Niederlage der Republik 1939 nach Frankreich emigrieren mussten. Sie machten ihn mit dem chilenischen Dichter Pablo Neruda bekannt, der zuvor Konsul in Madrid gewesen und nun von dem neuen chilenischen Präsidenten Pedro Aguirre Cerda als Sonderkonsul beauftragt worden war, spanischen Antifaschisten die Flucht nach Chile zu ermöglichen. Durch die Hilfe Nerudas gehörte Amster zu den 2012 spanischen Männern und Frauen, denen die Überfahrt gelang. Amster erhielt einen Lehrstuhl für Grafik an der Universität von Santiago der Chile, den er bis zu seinem Lebensende behalten sollte. Sein Freund Rawicz, von den Franquisten zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt, kam auf internationalen Druck frei und konnte schließlich auch nach Chile ausreisen.

Amster gehörte bald dem Direktorium der renommierten Zeitschrift »Babel« an, die Intellektuellen aus aller Welt ein Podium bot. Dort veröffentlichte er in der Mai-Juni-Nummer 1947 unter dem Titel »Beeindruckende Schallplatten« eine hymnische Laudatio auf Ernst Busch. Es ist nicht bekannt, ob Ernst Busch diesen Artikel kannte. Öffentlich hat er sich wohl auch nie über Amster, der 1980 in Santiago starb, geäußert. Vielleicht lag das daran, dass Busch, der selbst genug Schwierigkeiten hatte, vom letztendlichen, enttäuschten Bruch Amsters mit der kommunistischen Bewegung wusste.

Ein Zeichen des Wandels in der Erinnerungs- und Gedenkpolitik in Spanien ist eine jüngst erschienene Publikation des Instituto Cervantes zu Ehren von Maurico Amster und Walter Reuter mit einem Reprint der »Cartilla Escolar Antifascista« von 1937.

Der Geschichte der antifaschistischen Schulfibel von 1937 wird demnächst eine Ausstellung in Frankfurt am Main gewidmet sein.

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