Immer mehr Pleiten in der deutschen Wirtschaft

Insolvenzen bei Kapital- und Personengesellschaften auf dem höchsten Stand seit zehn Jahren

Mit Sonderrabatten bis zu 70 Prozent lockt eine Esprit-Geschäft in Berlin. Esprit schließt alle Filialen in Deutschland.
Mit Sonderrabatten bis zu 70 Prozent lockt eine Esprit-Geschäft in Berlin. Esprit schließt alle Filialen in Deutschland.

In der Hamburger Innenstadt schließt das bekannte Möbelhaus »Die Wäscherei« – 40 Beschäftigte erhalten die Kündigung. Der Autositzhersteller Recaro im württembergischen Kirchheim ist ebenfalls insolvent. Vor dem Aus stehen 200 Jobs. Auch der Modekonzern Esprit hat Insolvenz angemeldet und will bis Jahresende alle Filialen in Deutschland schließen. Betroffen sind davon mehrere Standorte in Ostdeutschland, etwa in Leipzig und Erfurt. Rund 1300 Angestellte verlieren ihre Arbeit.

Diese Fälle aus den vergangenen Tagen sind keine Einzelfälle. Die Zahl der beantragten Regelinsolvenzen in Deutschland ist nach vorläufigen Angaben des Statistischen Bundesamtes (Destatis) im Juli um 13,5 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat gestiegen. Im Mai hatte die Zahl der Firmenpleiten sogar um über 30 Prozent zugelegt. Seit einem Jahr ist die monatliche Zuwachsrate fast ständig zweistellig.

In die sogenannte Regelinsolvenz gehen Unternehmen sehr unterschiedlicher Größe. Erfasst wird von den zuständigen Amtsgerichten eine von drei Pleiten. Destatis geht es daher nicht um absolute Zahlen, sondern um den Trend. Seine Statistik der Regelinsolvenzen zählt unter Ökonomen als vager Frühindikator der wirtschaftlichen Entwicklung, als besser und zeitnaher gilt aber der IWH-Index aus Halle.

Die von Destatis erhobenen Regelinsolvenzen umfassen neben den Personen- und Kapitalgesellschaften auch die gesamtwirtschaftlich weniger bedeutsame Gruppe der Kleinstunternehmen. Zudem werden auch bestimmte natürliche Personen wie Selbstständige oder ehemals selbstständig Tätige »mit unüberschaubaren Vermögensverhältnissen« den Amtsgerichten gemeldet. Die Unternehmensinsolvenzen insgesamt machen weniger als die Hälfte der Regelinsolvenzen aus.

Grund genug für das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), monatlich eine eigene Erhebung vor allem zu mittleren und großen Unternehmen zu erstellen. Die im IWH-Trend gemeldeten Insolvenzen für Kapital- und Personengesellschaften umfassen in der Regel mehr als 90 Prozent aller betroffenen Arbeitsplätze und 95 Prozent der Forderungen von Gläubigern gegenüber den Pleitiers.

»Deutlich schneller als die amtliche Statistik liefert der IWH-Insolvenztrend jeden Monat einen belastbaren Befund zum bundesweiten Insolvenzgeschehen«, so das IWH. Seine Ergebnisse weisen letztlich nur geringfügige Abweichungen von den vollständigen amtlichen Zahlen auf, die mit etwa zwei Monaten Zeitverzug erscheinen.

Im Juli gingen 1406 Personen- und Kapitalgesellschaften in Deutschland pleite. »Damit liegen die Zahlen so hoch wie seit etwa zehn Jahren nicht mehr«, warnt das IWH in einer Mitteilung. Die Zahl der Insolvenzen stieg im Juli um 20 Prozent gegenüber dem Vormonat und liegt 37 Prozent über dem Juli 2023. Noch bedenklicher: Der aktuelle Wert liegt 46 Prozent über dem Juli-Durchschnitt der Jahre 2016 bis 2019, also vor der Corona-Pandemie.

Der rasante Anstieg der Zahlen betrifft alle Branchen. Er fällt jedoch besonders deutlich im verarbeitenden Gewerbe aus. Nach 100 insolventen Industrieunternehmen im Juni, was dem hohen Durchschnitt der vergangenen Monate entsprach, lag die Zahl im Juli bei 145 – ein neuer Höchstwert.

Für die kommenden Monate zeichnet sich keine wirkliche Besserung ab. »Wir rechnen damit, dass die Insolvenzzahlen im August leicht sinken und dann im September wieder ansteigen«, erwartet das IWH. Die Gründe für die Pleitewelle sind vielfältig. In Deutschland schrumpfte die Wirtschaftsleistungen im Zeitraum April bis Juni um 0,1 Prozent. Damit ist Deutschland abgeschlagen Schlusslicht unter den großen Eurostaaten. Die stark exportorientierte Wirtschaft in Deutschland leidet unter hohen Energiepreisen und Zinsen, der nur verhalten wachsenden Weltwirtschaft und dem geopolitischen Konflikt der Vereinigten Staaten mit China und Russland.

Unter der Schwäche der hiesigen Großindustrie leiden Zulieferer und nachgelagerte Dienstleister. Eine Rolle spielen auch die Verbraucher, deren Konsumneigung aus Sicht von Volkswirten zu gering und deren Sparneigung zu hoch ist. Obendrein sind Banken bei der Kreditvergabe vorsichtiger, was Investitionen bremst. Hinzu kommt der subjektive Faktor. So ist das Geschäftsklima in Umfragen, die jüngste wurde am Dienstag vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung veröffentlicht, zuletzt dreimal nacheinander gesunken. Auch die Stimmung im Mittelstand verschlechterte sich zum dritten Mal in Folge. So blicken Konjunkturforscher nur skeptisch in die Zukunft.

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