- Kultur
- Geschichte der Eugenik
Euthanasie-Verbrechen der Nazis: Aufarbeitung mit Leerstellen
Die US-Historikerin Dagmar Herzog hat die Geistesgeschichte der deutschen Eugenik aufgearbeitet. Dabei würdigt sie auch Menschen, die anders dachten
Jahrzehntelang wurde zum deutschen Sonderweg der Ermordung von Menschen mit Behinderung geschwiegen. Erst seit den 80er Jahren sind mit steigender Frequenz Werke erschienen, die zumindest anfangen, dieses Grauen einzuordnen und Kontinuitäten und Brüchen nachzugehen. In diese Tradition reiht sich Dagmar Herzogs Buch ein, das eine Geistesgeschichte der deutschen Eugenik nachzeichnet, aber gleichzeitig eine Genealogie des Antiableismus ist. Denn um Täter*innen und Eugeniker*innen geht es zwar auch, aber Herzog legt dankenswerterweise einen starken Fokus auf jene, die sich im Laufe der Geschichte um ein menschliches Miteinander bemüht haben.
Sie beginnt ihre Darstellung mit Johann Jakob Guggenbühl (1816–1863), einem der Vorreiter der Sonderpädagogik. Guggenbühl war überzeugt davon, dass Kinder mit sogenannter geistiger Behinderung lernfähig sind, und stellte die Prinzipien »Liebe und Wohlwollen« ins Zentrum seines Schaffens. Um seine Einrichtung zu finanzieren, akquirierte er Spenden. Deshalb sah er sich bei seinen Vorträgen gezwungen, Geldgeber*innen nachzuweisen, dass auch diese Kinder »nützlich« sein konnten.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Im Anschluss an diese guggenbühlsche Zeit etablierte sich in Deutschland ein Netz von Anstalten und Hilfsschulen, die die Menschen erziehen und formen sollten. Insbesondere die Anstalten hatten oft einen christlichen Charakter und waren Teil der inneren Mission. Trotz dieses religiösen Überbaus wurden die Betreuten weiterhin nach ihren Potenzialen sortiert: Der Wunsch, besonders intensiv zu betreuende Pflegefälle in eigene Verwahranstalten abzusondern, zementierte die Grenze zwischen »brauchbar« und »unbrauchbar«. Es war eine fatale Grenzziehung: Sie sollte in den 1940er Jahren darüber entscheiden, wer »nur« sterilisiert und wer ermordet wurde.
In den 1890er Jahren drang die Psychiatrie in den Bereich des »Schwachsinns« vor, was zu einer Pseudoverwissenschaftlichung führte. Das Primat der medizinischen Perspektive vor der pädagogischen Methode führte mit zur Etablierung des Konzeptes der »Rassenhygiene«, das die gesellschaftlichen Vorbedingungen für Behinderung weitgehend ausklammerte – obwohl auch damals schon klar war, dass 85 Prozent der sogenannten »Schwachsinnigen« aus armen Familien stammten. Die Fokussierung auf individuelle oder intergenerationelle Schuld unter Ausklammerung der sozialen Perspektive vereinfachte jenen deutschen Sonderweg, der während der NS-Zeit dann Eugenik und Euthanasie zusammenbrachte.
Die entscheidende Intervention, die dieses Verbrechen mit ermöglichte, war ein kurzer Text des Juristen Karl Binding und des Psychiaters Alfred Hoche aus dem Jahr 1920: »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens«. Darin sprachen sich die beiden – in ihren Fachgebieten und sogar darüber hinaus hoch angesehenen – Autoren ganz unverhohlen für eine massenhafte Tötung all jener aus, die sie nicht mehr zu den Menschen zählten. Sie verbanden diesen Vorschlag mit einem Angriff auf die Kirchen, denen sie falsches Mitleid unterstellten; ein Vorwurf, den besonders protestantische Akteure nicht auf sich sitzen lassen wollten.
Im Bedürfnis, Anschluss an die neue Zeit und ihre Wissenschaftlichkeit zu bewahren, einigten sich wichtige Vordenker und Anstaltsleiter auf eine Position, die grob zusammengefasst besagte: Sterilisation ja, Mord nein. Dieser fadenscheinige Kompromiss sollte es den Kirchen nach 1945 ermöglichen zu behaupten, sie seien gegen die Ermordung behinderter Menschen gewesen, und die Aufarbeitung der eigenen Verantwortung auf Jahrzehnte verzögern.
Dagmar Herzog weist in ihrem Essay immer wieder auf die Verquickungen von Behindertenfeindlichkeit einerseits und Klassismus und Antisemitismus andererseits hin. Gerade Vertreter*innen der Kirche sahen in der liberalen Sexualmoral der Weimarer Republik und im Verfall der guten Sitten – für den sie teils die Verlotterung der unteren Schichten, teils jüdische Intellektuelle und Journalist*innen, teils auch die Sozialdemokratie verantwortlich machten – den Hauptgrund für die Existenz von Behinderung. Manche wehrten sich auch gegen die Idee, behinderte Menschen zu töten, weil jene als ein Mahnmal für die Konsequenzen eines liederlichen Lebenswandels gebraucht wurden.
Die Idee der Vernichtung sogenannten lebensunwerten Lebens entstand 1939 und wurde zügig in die Tat umgesetzt. Das war kein Projekt einer kleinen Führungselite, sondern wurde von vielen Täter*innen und Mittäter*innen mitgetragen. Es gab keine gesetzliche Grundlage, die die Morde an Menschen mit Behinderung rechtfertigte. Niemand, weder Pfleger*in noch Ärzt*in, der oder die sich dem Morden verweigerte, wurde bestraft oder gar inhaftiert. Mordanstalten wie Hadamar standen mitten in Deutschland, die Asche der vergasten Opfer regnete auf die Vorgärten herab. Wenn die grauen Busse, die die Opfer in den Tod fuhren, an Straßenarbeitern vorbeikamen, nahmen diese ihre Mützen ab, um ihre Trauer zu bekunden; alle wussten von dieser Vernichtung.
Es gab auch Menschen, die darüber sprachen: Der Münsteraner Bischof von Galen beispielsweise predigte gegen die allen bekannten Morde. Das war einer der Gründe, warum sie eingestellt wurden. Ein anderer war, dass die Methode (vergasen und totspritzen) zu teuer wurde. Im Anschluss ließ man die Menschen in der Phase, die die Wissenschaft heute »dezentrale Euthanasie« nennt, schlicht verhungern. Die Erkenntnisse aber, die man aus den Vergasungen gewonnen hatte, bildeten die Grundlage für die Vernichtung jüdischer Mitmenschen in ganz Europa.
Die Grenze zwischen Gut und Böse ist – vorsichtig gesagt – schwammig, das zeigen Fälle wie die des evangelischen Pfarrers Ludwig Schlaich, der noch heute als Vater der Heilpädagogik verehrt wird. Schlaich stand Sterilisation durchaus offen gegenüber, widersetzte sich aber, wann immer er konnte, der Tötung seiner Zöglinge. Ein Buch von ihm versammelt Stimmen jener, die damals als geistig behindert galten. Es konnte jahrzehntelang nicht erscheinen, weil die Medizin um ihren guten Ruf fürchtete.
Dass es bis in die 80er Jahre hinein keine Aufarbeitung der Euthanasiemorde gab, ist bis heute ein Skandal, der kaum wahrgenommen wird. Die Kontinuität der Behindertenfeindlichkeit wird nur sehr langsam aufgebrochen, es gibt kaum ein Gedenken an die Opfer. Jahrzehntelang haben Mediziner*innen ihre Doktorarbeiten anhand von Proben geschrieben, die in Vernichtungsanstalten genommen wurden. Wichtige Akteur*innen dieser Tötungsmaschinerie blieben ihren Lebtag unbehelligt. Bis in die 70er hinein war die Sterilisation von Frauen, die als geistig behindert galten, eine Standardprozedur – heute abgelöst von der Dreimonatsspritze (ein hormonelles Verhütungsmittel, das alle drei Monate per Injektion verabreicht wird).
Dagmar Herzog beendet ihren Essay mit den 90er Jahren, aber viele der Fragen, die sie aufwirft, begleiten Pflege und Soziale Arbeit noch heute. Die Konzession Guggenbühls ans Publikum, Menschen nach ihrer Nützlichkeit zu beurteilen, ist ein solches Dilemma – ein anderes die Dominanz der Mediziner*innen im Diskurs von Gesundheit und Krankheit. Oder die Frage, was ein Mensch ist und was nicht, und ob es da Abstufungen geben darf. Und wie mit jenen zu verfahren ist, die denken, dass es Abstufungen geben dürfte. Oder warum die Kirchen so einfach davongekommen sind, gerade die evangelische.
Diese Fragen bleiben – doch Dagmar Herzog hat uns mit ihrem Essay die Möglichkeit gegeben, die Geschichte der Eugenik und des Ableismus neu zu verstehen und zu lesen. Das ist schon viel.
Dagmar Herzog: Eugenische Phantasmen. Eine deutsche Geschichte. Suhrkamp, 390 S., geb., 36 €.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.