Vom Alten Fritz zu neuen Ufern im Oderbruch

Eine Reise durch den faszinierend vielfältigen Mikrokosmos von Europas größtem besiedelten Flusspolder

  • Ekkehart Eichler
  • Lesedauer: 5 Min.
Seit 2022 trägt das Oderbruch als erste Kulturlandschaft das Europäische Kulturerbe-Siegel.
Seit 2022 trägt das Oderbruch als erste Kulturlandschaft das Europäische Kulturerbe-Siegel.

Dreimal steht er als Denkmal im Oderbruch, und das mit Fug und Recht. Ohne Friedrich II., auch »der Große« oder volkstümlich »Alter Fritz« genannt, gäbe es diese urwüchsige Kulturlandschaft womöglich nicht. Nach verlustreichen Kriegen brauchte der Preußenkönig einst neues Land für Ackerbau und Viehzucht. Sein Auge fiel auf das 60 Kilometer lange und 20 Kilometer breite Oderbruch – eine bis dato kaum nutzbare Gegend, weil sie Jahr für Jahr überschwemmt wurde vom Hochwasser der vielarmigen Oder.

1747 begann das Mammutprojekt mit der Begradigung und Eindeichung. Sechs Jahre später war das Werk vollendet: 20 Kilometer neuer Flusslauf geschaffen, der Sumpf trocken gelegt, 32 500 Hektar Land gewonnen. »An den höchsten und bequemsten Orten« – so die Anweisung des Königs – »seien neue Dorfstellen auszusuchen und in jedem Dorf als Erstes ein guter Krug mit zwei geräumigen Stuben zu errichten«.

Nun mussten Siedler her. Diese lockte der König aus ganz Europa an mit dem Versprechen auf Religionsfreiheit, Verzicht auf Militärdienst und Steuervergünstigungen. Tausende folgten dem Ruf und erhielten als neue Kolonisten Haus und Hof und ein Stück Land. »Hier habe ich im Frieden eine Provinz erobert«, soll der König abschließend kommentiert haben. Die in der Folge zur Kornkammer Preußens aufstieg und zum Gemüsegarten Berlins.

Als erste von 40 neuen Siedlungen entstand 1753 Neulietzegöricke. Heute das Oderbruch-Vorzeigedorf mit schmucken Fachwerkhäusern, sorgsam sanierter Kirche, gepflegtem Anger sowie wertvollem Baumbestand. Und dem Ex-Bürgermeister Horst Wilke, der Gäste als Dorfschulze in alter Kluft und mit Oderbruch-Platt begrüßt – so wie es seinerzeit unter den Kolonisten gesprochen wurde. Er kennt hier alles und jeden und gibt auf dem gemütlichen Spaziergang durchs Dorf einige Anekdoten zum Besten: Erstaunliches. Erquickliches. Erbauliches.

Weit über den Rahmen des Oderbruchs hinaus hat sich auch das Kolonisten-Kaffee in »Lietzes« alter Dorfschule einen Namen gemacht. Bis aus Berlin kommen Stammgäste zu Martina Herrlich-Gryzan wegen ihrer Spezialröstung und den hausgebackenen Leckereien. Und wenn die Leute gerade mal nicht Schlange stehen, erzählt auch sie gern Geschichten. Zum Beispiel von des Königs »Kaffeeschnüfflern«. 400 Kriegsinvaliden, die durch intensives Riechen feststellen sollten, wo im Land gesetzeswidrig privat Bohnenkaffee geröstet wurde. Denn das war ebenso verboten wie die Einfuhr von Kaffee aus dem Ausland.

Bis heute ist das Oderbruch eine der fruchtbarsten Gegenden Deutschlands. Dafür sorgt ein ausgeklügeltes System aus 1300 Kilometer langen Wasseradern, 37 Schöpfwerken, 250 Wehr- und 72 Pegelanlagen, 80 Kilometern Haupt-Oderdeichen und 2600 Kilometern Dränagen. 2022 wurde das Oderbruch zudem als erste Kulturlandschaft mit dem Europäischen Kulturerbe-Siegel ausgezeichnet. Erlebbar wird das an 44 Kulturerbe-Orten: Heimatstuben und Dorfmuseen, Schöpf- und Schiffshebewerken, Kirchen, Windmühlen und Bauernhöfen. Dazu gehört Brandenburgs längste Lindenallee in Neubarnim und die rostrote Stahlblechskulptur des Flussgottes Viadrus, der über die deutsch-polnische Schaufelradfähre an der Güstebieser Loose wacht.

Ein anderes Schmuckstück überspannt in Neurüdnitz den Strom – die Europabrücke. Ein 860 Meter langes Panoramadeck, das 2022 als grenzüberschreitender Fuß- und Fahrradweg wiedereröffnet wurde. Allerbeste Flusslage gibt es auch am Kulturhafen Groß Neuendorf. Wo früher Waren und Güter umgeschlagen wurden, kann man heute im alten Verlade-Turm mit bestem Oder-Überblick Kaffee trinken sowie in historischen Eisenbahnwaggons Theater erleben. Und sogar darin schlafen – direkt am Oder-Ufer.

Brandenburg: Vom Alten Fritz zu neuen Ufern im Oderbruch

Ungewöhnlich übernachten lässt es sich auch gleich um die Ecke in sechs Schäferwagen. Bei Barbara Brunat im »Erlenhof« dreht sich alles ums Schaf. Ihre 25 Skudden, eine vom Aussterben bedrohte Nutztierrasse, haben hier tagtäglich den Schafhimmel auf Erden. Im Hofladen kann man zusehen, wie Brunat am Spinnrad raue Rohwolle in stabile Fäden verwandelt. Und generell staunen, was Schaf so alles hergibt: Felle, Mützen, Strickwaren, Schals, Fleisch, Wurst, Schafmilchseife, Schafkosmetik, Molkereiprodukte. Und nicht zuletzt kann die Schaf-Chefin fesselnd erzählen – nach zwei Stunden Schafgeflüster sehen nicht nur Kinder die Welt der wolligen Wundertiere mit glänzenden Augen.

Bei einem richtigen Besuch im Oderbruch darf aber auch ein Abstecher zum Fischer nicht fehlen. In Küstrin ist es Andre Schneider, der in sechster Generation Fischers täglich Brot aus dem Fluss holt, an Ort und Stelle räuchert und im Kiosk an das fischliebende Publikum bringt. Sein Liebling ist der Wels, den er tätowiert am Oberarm trägt und von dem immer mal wieder Zwei-Meter-Kaventsmänner aus der Oder gehievt werden. Auch von ihm. Fürs Geschäft allerdings bevorzugt er halb so große Kaliber, »die haben das beste Fleisch und lassen sich ideal filetieren.«

Ein Muss für Filmfans wiederum sind die »Kinder von Golzow«, die Chronik einer Landschulklasse von 1961 bis 2007. Mit 19 Filmen und 42 Stunden die umfangreichste Langzeitbeobachtung der Filmgeschichte. Im Filmmuseum Golzow erfährt man alles über das Lebenswerk der Defa-Dokumentarfilmer Barbara und Winfried Junge.

Wer noch mehr Kultur will, findet sein Glück zum einen in Neuhardenberg. Das Prachtensemble aus Schinkelschloss und Lenné-Park ist eine Hochburg für hochkarätige Konzerte, Lesungen und Theaterabende. Zum anderen zieht es Kulturliebhaber in das »Theater am Rand« in Zollbrücke. Auf den Oderbruchwiesen direkt am Fluss betreibt Schauspieler Thomas Rühmann das einzigartige Theater, unter dessen Hexenhausdach Stücke nach literarischen Vorlagen gespielt werden. Dazu gibt es hochklassige Konzerte, Gastspiele, Lesungen und Kindertheater. Und zuallerletzt sei unbedingt das tolle Oderbruch Museum in Altranft empfohlen. Warum? Das findet mal schön selbst heraus!

Die Recherche für diesen Beitrag wurde teilweise unterstützt von der Tourismus Marketing Brandenburg und vom Seenland Oder-Spree.

Tipps
  • Allgemeine Infos: www.reiseland-brandenburg.de und www.seenland-oderspree.de
  • Anreise: Vom Berliner Ostkreuz erreicht man die Haltestelle Strausberg Nord mit der S-Bahn in 50 Minuten. Von dort geht es mit dem PlusBus nach Bad Freienwalde und Wriezen.
  • Unterkunft: Im Schlosshotel Neuhardenberg gibt es Doppelzimmer ab 159 Euro (www.schlossneuhardenberg.de). Ein Schäferwagen für zwei Personen auf dem »Erlenhof« in Kienitz kostet 45 Euro pro Nacht (www.erlenhof-oderbruch.de) und einen alten Bahnwagon in Groß Neuendorf kann man für 80 Euro mieten (www.verladeturm.de).
  • Aktivitäten: Das Oderbruch Museum in Altranft hat von Donnerstag bis Sonntag immer von 11 bis 17 Uhr geöffnet (Eintritt 8 Euro). Den Spielplan und die Tickets für das Theater am Rand gibt es auf der Webseite des Theaters (www.theateramrand.de).
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