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»Beluga«: Der Kutter wurde geradezu untergepflügt
Vor 25 Jahren sank unter bis heute nicht geklärten Umständen ein Fischerboot
Es fuhr von Rügen nach Bornholm, von Saßnitz nach Rønne. Es hatte nichts geladen. Die drei Besatzungsmitglieder wollten dort ein Fischereigeschirr und Eis übernehmen, auch sollte das Rettungsfloß überprüft werden. Das gesunkene Boot – 17,5 Meter lang und 114 Tonnen schwer – wurde anderntags in 20 Metern Tiefe entdeckt. Die toten Seeleute fand man erst Monate später.
Die Ermittlungen verliefen so dynamisch und erfolgreich wie die Suche nach den Tätern, die 23 Jahre später die Gaspipelines Nord Stream I und II sprengten. Der Vergleich liegt auch insofern nahe, als beide Tatorte nur unweit auseinanderliegen. Was gewiss Zufall sein mag. Aber vermutlich sind die Parallelen der Aufklärung, die einer Vertuschung gleichkommen, keineswegs so zufällig. Es hat irgendwie System. Damals wie heute überwiegt das Interesse der Obrigkeit, dass die Sache unter der Decke bleibt.
Ja, so beginnen die meisten Verschwörungstheorien. Aber es ist nun einmal eine Tatsache, dass verschiedene amtliche Einrichtungen wider besseres Wissen den drei Seeleuten die Schuld am Untergang zuschrieben. Man machte aus den Opfern Täter. Sie hätten – so die unbewiesene Behauptung – zu viel Wasser an Bord gehabt, und dann sei durch nicht verschlossene Speigatten noch mehr Wasser ins Boot gelaufen, was es schließlich zum Kentern gebracht habe. Diese These ließ man sich auch durch teure Gutachten bestätigen.
Eine Mauer des Schweigens zwischen Berlin und Brüssel, Marine und Justiz blockiertdie Aufklärung.
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Aufklärung hätte das Bundesverteidigungsministerium geben können, denn im bewussten Seegebiet hatte wenige Tage vor Beginn des Nato-Krieges gegen die Bundesrepublik Jugoslawien das Seemanöver »Jaguar« stattgefunden. Die Bonner Hardthöhe winkte ab: Nein, die am Manöver beteiligten Schiffe hätten zum fraglichen Zeitpunkt ganz woanders in Ruheposition gelegen, es gebe auch keine Berichte aus der Flotte über eine Kollision mit der »Beluga« und dergleichen.
Aber die Ostsee gehört zu den am besten überwachten Gewässern der Welt, es müsste doch elektronische Aufzeichnungen von Land, von Schiffen, aus der Luft und aus dem Kosmos geben? Die seien alle bereits gelöscht, bekamen jene zu hören, die Licht in die Angelegenheiten zu bringen wünschten.
Zu jenen, die hartnäckig nachfragten, gehörten zwei Fernsehjournalisten vom NDR. Sie taten dies ein Vierteljahrhundert lang. Der eine – Lutz Riemann, bekannt als Oberleutnant Zimmermann im DDR-»Polizeiruf 110« – ist darüber gestorben, der andere – Michael Schmidt, einst bei der »Aktuellen Kamera« in Adlershof beschäftigt – ist inzwischen in Rente. Sie kamen immer wieder auf das Thema zurück, begleiteten die Schritte der Hinterbliebenen und der Sassnitzer Fischerkollegen, publizierten hin und wieder dazu in Printmedien – auch in dieser Zeitung. Die beiden beklagten nicht die Mauer des Schweigens und die Untätigkeit der Behörden, sondern machten sichtbar, wie die Institutionen des Rechtsstaats – von Staatsanwaltschaft über Seeamt und Oberseeamt, Verteidigungsministerium bis Petitionsausschuss, von Berlin bis Brüssel – in merkwürdiger Übereinstimmung handelten. Als wollten sie dem Wahlvolk beweisen, dass die alte Volksweisheit zutreffe, dass eine Krähe der anderen kein Auge aushackt.
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Aber es war, wie die beiden aufmerksamen Rechercheure spürten, mehr als nur die Solidarität von Staatsbediensteten untereinander, mehr als nur Korpsgeist oder Loyalität gegenüber dem Dienstherrn. Ein Informant, der namenlos bleiben wollte und damit für die beiden Journalisten wertlos war, fürchtete den Verlust des Arbeitsplatzes. Dabei bestätigte seine Aussage alle Gutachten und Vermutungen der forschenden Seite. Bei dem Manöver hätten ein deutsches und ein französisches Kriegsschiff eine mehrere Hundert Meter lange Stahltrosse zwischen sich gespannt und wären auf Parallelkurs gegangen. So wollte man im Ernstfall kleine gegnerische Überwasserschiffe stoppen. »Die Kriegsschiffe seien abgeblendet und unter elektronischer Tarnung gefahren, nicht erkennbar auf den Radarschirmen«, so wird der Zeuge im Buch zitiert. »Die ›Beluga‹ sei blind in das Stahlseil reingefahren und untergegangen. Der Kutter wurde geradezu untergepflügt. Von Rettungsversuchen wisse er nichts.«
Es kann so gewesen sein. Aber auch anders. Die elektronischen und andere Aufzeichnungen, die dies bestätigen oder widerlegen können, existierten angeblich schon damals nicht mehr. Also warten nun alle darauf, dass der Cold Case von 1999, dieses ungelöste Kapitalverbrechen, durch neue Ermittlungsergebnisse oder fortgeschrittene Untersuchungsmethoden eines Tages gelöst werden könnte. Damit der Fall aber im öffentlichen Bewusstsein bleibt und nicht vergessen wird, hat Michael Schmidt alle ihre Untersuchungen in einem Band publiziert. Das ist mehr als nur eine Zusammenfassung, es ist ein Zeugnis hervorragender journalistischer Arbeit, wie es sie heute kaum noch gibt. Es zeigt nie versiegende Neugier, die ungebrochene Ausdauer, an einem ungelösten Thema dranzubleiben, Nachhaltigkeit also im umfassenden Sinne.
Schmidt (und der verstorbene Riemann) demonstrieren Fairness und Respekt gegenüber allen Gesprächspartnern, egal, ob sie ihnen die Wahrheit sagen oder verschweigen. Sie widerstehen der hierzulande inzwischen gängigen Neigung, für eine zitierfähige Schlagzeile und wegen vermeintlicher Neuigkeit Aufgeschnapptes rauszuhauen, ohne dessen Wahrheitsgehalt überprüft zu haben. In diesem Sinne ist Schmidt (und in memoriam auch Riemann) Vertreter der alten Schule, in der journalistische Glaubwürdigkeit auf Kompetenz und Integrität, auf Genauigkeit und Wahrhaftigkeit gründete. Das zu betonen ist angesichts der Einseitigkeit und der politischen Propaganda, die heute die Medien dominieren, nicht nur legitim, sondern notwendig.
Man sieht, was man weiß, schrieb einst Goethe. Doch wer von den Journalisten heute liest noch Goethe?
Michael Schmidt: Cold Case auf der Ostsee. Der Fall Beluga. Verlag am Park/Edition Ost, 240 S., br., 20 €.
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