- Politik
- Anschlag von Solingen
Hitlergrüße und »Ausländer raus«-Rufe in Solingen
200 Neonazis und Hooligans laufen durch Solingen und versuchen, den Anschlag zu instrumentalisieren
»Nazis raus!« ruft eine junge Frau, deren Eltern aus der Türkei stammen, einem rechten Aufmarsch mit über 200 Teilenhmer*innen entgegnet. Was sie hört – »Geh zurück wo du herkommst!« – ist das harmloseste. Zahlreiche sexualisierte und rassistische Beleidigungen muss sie erdulden. Sie lächelt und ruft zu den Nazis zurück: »Verpisst euch aus meiner Stadt!« Die junge Frau ist Solingerin. Sie sagt, dass ihr die Nazis keine Angst machten, dass es »alberne« Gestalten seien. Aber dass der Aufmarsch sie und alle anderen Menschen in Solingen einschüchtern soll, die nicht »deutsch« sind, das merkt sie schon. Genauso wie viele andere Menschen es auch bemerken. Die lieber Seitenstraßen und Hauseingänge aufsuchen, wenn der Trupp aus extrem rechten Demonstrant*innen und Polizist*innen auf sie zurollt.
Aber der Reihe nach. Der höchstwahrscheinlich islamistisch motivierte Anschlag von Solingen mit drei Todesopfern elektrisiert die extreme Rechte. Im Netz wird seit Freitagnacht gehetzt, am Sonntag veranstaltete die AfD-Jugend eine Kundgebung in der Stadt. Am Montag stand eine Demonstration der lokalen Corona-Leugner*innen an. Die gibt es jeden Montag, oft als Autokorso, in der Regel mit einer einstelligen oder knapp zweistelligen Teilnehmer*innenzahl. Für diesen Montag wurde allerdings deutlich über das normale Spektrum hinaus mobilisiert. In zahlreichen extrem rechten Social-Media-Gruppen tauchten martialische Grafiken auf, die zur Demonstration aufriefen. Im Vordergrund standen jetzt nicht mehr die Coronapolitik oder die Forderung nach Frieden mit Russland, sondern das neurechte Modewort für Deportation: »Remigration«.
Die Aufrufe zogen das entsprechende Publikum an. Männer mit Glatzen, Tätowierungen und rechten Szeneshirts. Besonders beliebt, das Logo der Kampfsportveranstaltung »Kampf der Nibelungen«. Man wollte sich martialisch geben und tat das auch. Als kurz nach Beginn der rechten Demonstration am Rand Linke auftauchten, zögerten Neonazis und Hooligans nur kurz und liefen dann brüllend auf die Antifaschist*innen zu. Die Polizei schaffte es erst in letzter Sekunde, zwischen beide Gruppen zu rennen und diese auf Abstand voneinander zu halten.
Die Neonazis und Hooligans übernahmen dann auch die Führung des anschließenden Demonstrationszugs. Aggressiv gegen die zahlreichen Gegner*innen am Rand und mit Parolen wie »Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen!« liefen sie vorneweg. Der Vesammlungsleiterin von der Corona-Leugner Gruppe »Freie Bergische Löwen« wurde das irgendwann zu viel. Die Parole »Deutschland den Deutschen – Ausländer raus!« wollte sie nicht dulden. Für »Remigration« sei sie, aber nicht für »rechtsradikale Parolen« so erklärte sie per Megafon. Hilfe bei der Polizei fand sie nicht. Die Parole sei nur strafbar, wenn sie gleichzeitig einschüchtere. Und so beendete sie den Aufmarsch nach einem Teil der Wegstrecke und verließ mit etwa 40 Personen das Demonstrationsgeschehen.
Dominik Schumacher von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus hat die Szenerie beobachtet. Für ihn ist klar, die Corona-Leugner*innen mussten am eigenen Leib erfahren, »daß die Duldung von Neonazi-Teilnehmer*innen nicht konsequenzenlos bleibt«. Eine weitere Beobachtung von Schumacher: »Sofort und wie bestellt übernahm der langjährige Neonazi-Aktivist Claus Cremer die Anmeldung der nun neuen Demo«, so der Berater weiter. »Während es vorher optisch ein Spaziergang mit neonazistischer Dominanz war, handelte es sich nach Cremers Übernahme um eine reine Nazidemonstration«, ordnet Schumacher seine Beobachtungen ein. Sein Fazit: »Nazis laufen nicht ohne Konzept irgendwo mit, sind nicht einfach passive teilnehmende Masse, sondern tun dies mit Agenda. Das haben wir hier gesehen.«
Nachdem die Neonazis die Führung übernommen hatten, wurde ihre Ausrichtung noch ein wenig eindeutiger. Nun forderte der Demozug: »Nationaler Sozialismus – Jetzt!« Auch Hitlergrüße wurden aus den Reihen der Demonstrant*innen gezeigt. Die Polizei schreibt in ihrer Abschlussmeldung von einer Strafanzeige wegen Zeigens des nationalsozialistischen Grußes. In den sozialen Medien sind allerdings mittlerweile Bilder veröffentlicht worden, die mindestens zwei Teilnehmer bei dem verbotenen Gruß zeigen.
Ganz andere Bilder als die der grölenden, aggressiven Rechten lieferten die Teilnehmer*innen einer Mahnwache auf dem Alten Markt. Sie war ein Raum für Trauer und Austausch und versperrte durch ihre Lage den Neonazis den Weg zum Tatort am Freitag. Viele jüngere Antifaschist*innen verbrachten den Freitag vor der Asylunterkunft, in der der mutmaßliche Täter vom Freitag zuletzt lebte. Ihr Anliegen: ein »solidarischer Schutz« für die Unterkunft, falls die Polizei nicht so genau hinschaue und Nazis das Gebäude attackierten. Soweit kam es am Montagabend nicht.
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