Sahra Wagenknecht: Mit Goethe gegen die Kleingeistigkeit

Der Geburtstag von Johann Wolfgang von Goethe jährt sich zum 275. Mal. Ein Gespräch mit Sahra Wagenknecht

Das Goethe-Haus in Weimar. Als Schülerin arbeitete hier Sahra Wagenknecht und machte Führungen.
Das Goethe-Haus in Weimar. Als Schülerin arbeitete hier Sahra Wagenknecht und machte Führungen.

Frau Wagenknecht, von Goethe stammen die Verse: »Begeisterung ist keine Heringsware,/ Die man einpökelt auf einige Jahre.« Wie viel Zeit finden Sie – zwischen Profilierung Ihrer neuen Partei und derzeitigem Wahlkampf in drei ostdeutschen Bundesländern – für eine begeisterte Goethe-Lektüre?

Aktuell nicht viel – sehr viel weniger, als ich mir wünschen würde. Wir sind derzeit in Thüringen und Sachsen im Wahlkampf, immerhin wohne ich währenddessen in einem Hotel in Weimar. Ich bin gerade gestern am Goethe-Haus vorbeigelaufen, und das erinnert mich natürlich auch an die Zeit, als ich als Schülerin dort gearbeitet und Führungen gemacht habe. Wenn der Wahlkampf vorbei ist, dann schaue ich auch wieder rein in die Gedichte oder in den »Faust«, aber zurzeit – das gebe ich zu – muss ich eher drögere Sachen lesen, etwa die wütenden Äußerungen konkurrierender Politiker gegen uns. (lacht)

Interview

Sahra Wagenknecht wurde 1969 in Jena geboren, studierte Philo­so­phie sowie Neuere deutsche Literatur und wurde in Volks­wirt­schafts­lehre promo­viert. Sie trat 1989 in die SED ein und vertrat in unter­schied­lichen Funk­tionen deren Nach­folge­parteien PDS und Die Linke. Heute ist sie eine der beiden Vor­sitzen­den des nach ihr benannten Bünd­nisses Sahra Wagen­­knecht. Die Parteien gehen – die Liebe zur deutschen Klassik bleibt.

Wenn Sie einmal versuchen, das Faszinierende im schriftstellerischen Werk Goethes zu beschreiben: Wie würden Sie das fassen?

Das Faszinierende ist, wie weit Goethe seiner Zeit voraus war! Wenn Sie zum Beispiel die »Pandora« lesen, die leider Fragment geblieben ist: Da wird der Kapitalismus in seiner ganzen Widersprüchlichkeit beschrieben: die Ambivalenz, dass die Maschinen, die neuen Technologien zwar viel Wohlstand schaffen, ihr rücksichtsloser Einsatz aber auch die Menschlichkeit und die Natur zerstört. Auch im »Faust II« wird zum Thema, welchen Preis die »Entfesselung der Produktivkräfte« hat, welche Auswirkungen für das menschliche Miteinander, für die ausgebeuteten Arbeiter. Goethe hat das in England verfolgt, den legendären Manchester-Kapitalismus. Das ist nicht nur Vergangenheit, wenn man sich die Verhältnisse in vielen Schwellen- oder Entwicklungsländern ansieht. Und auch bei uns ist das Leben für viele in den letzten Jahrzehnten wieder härter geworden. Das ist schon erstaunlich, wie Goethe in einer Zeit, als die Moderne gerade begann, schon die Probleme und all das Destruktive entfesselter Märkte vorhergesehen hat.

Ihre Goethe-Lektüre hat Sie als junger Mensch politisiert und zu weiteren prägenden Lektüre-Erfahrungen mit Hegel und Marx geführt. Kann man Ihres Erachtens sagen, dass die Goethe-Lektüre immer unvollkommen bleibt, wenn sie nicht durch eine Marx-Lektüre ergänzt wird?

Man sollte auf jeden Fall beides lesen, das stimmt schon. Es ist auch heute so, dass es klüger macht, Marx zu lesen. Natürlich ist die heutige Wirtschaft nicht mehr die des 19. Jahrhunderts. Es gibt große Unterschiede, aber es gibt viele Mechanismen, Prozesse und die ganze Krisenhaftigkeit, die Marx exakt analysiert hat. Wenn man verstehen will, wie Wirtschaft heute funktioniert, reicht Marx nicht; aber ohne Marx, nur mit den Werkzeugen der modernen Volkswirtschaftslehre, bleibt vieles im Dunkeln.

Ihre politische Positionierung, vielleicht auch den Wandel Ihrer politischen Haltung, haben Sie in den letzten Jahren mit dem Label »Linkskonservativismus« beschrieben. Spiegelt sich dieses konservative Weltbild auch in Ihrer Vorliebe für die deutsche Klassik?

Das Konservative muss man definieren. Mir geht es nicht darum, Machtverhältnisse oder eine ungerechte Eigentumsverteilung zu konservieren. Aber es gibt Traditionen, Bräuche, Prägungen, Kultur – daran ist vieles erhaltenswert. Menschen wünschen sich Stabilität und Sicherheit. Ein entfesselter Kapitalismus ist nicht konservativ, sondern zerstörerisch. Die frühere britische Premierministerin Thatcher hat das verkörpert: »There’s no such thing as society«, es gibt keine Gesellschaft – nur Individuen und Märkte. Der klassisch linke Ansatz war demgegenüber immer Solidarität, Gemeinsinn, Zusammenhalt. Der Sozialstaat funktioniert nur, wenn es ein Zusammengehörigkeitsgefühl gibt, sonst verliert er seine demokratische Basis. Dieser Gemeinsinn ist in den letzten Jahrzehnten unter die Räder gekommen. Auch die woke Linke steht eher in der Tradition von Thatcher als von Marx. Die Identitätspolitik bläst Unterschiede in der Abstammung, der sexuellen Orientierung oder Hautfarbe zu zentralen Fragen auf, das Gemeinsame rückt in den Hintergrund. Die klassische Linke war immer auch konservativ – einfach weil ihre Wähler es waren.

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Neben dem falschen Konservativismus der Neoliberalen und dem Konservativen in der Tradition des bundesrepublikanischen Sozialstaats gab es in der DDR – auch in der dortigen Goethe-Rezeption – einen eigenen Konservativismus, den man in der Diktion der Zeit mit dem Stichwort »Aneignung des bürgerlich-humanistischen Erbes« bezeichnet hat. Sehen Sie darin Anknüpfungspunkte?

Na ja. Es gab da schon recht obskure Sachen, etwa dass die DDR des »Faust Dritter Teil« sei. Aber für das damalige Bildungssystem spricht, dass die Klassik einen wichtigen Stellenwert in der Schule hatte. Ich finde es schon bedenklich, dass der »Faust« aus den Lehrplänen verschwindet und auch von Theatern immer weniger gespielt wird. Aufklärung und deutsche Klassik haben uns einzigartige Werke hinterlassen, die auf jeden Fall auch weiter gelesen und in der Schule vermittelt werden sollten.

Finden Sie denn unter Ihren Kollegen in der Berufspolitik Gesprächspartner, wenn es um Fragen der klassischen Literatur geht?

Es gibt nicht viel Gelegenheit, mit anderen Politikern über klassische Literatur zu reden. (lacht) Es mag einige geben, die ein Gesprächspartner wären. Aber wenn ich mir so die Spitzen der anderen Parteien anschaue, da würde ich das lieber nicht ausprobieren.

Sie haben erwähnt, dass Sie als Schülerin durch das Goethe-Wohnhaus in Weimar geführt haben. Gibt es ein Exponat, ein Objekt in dem Museum, das von besonderer Bedeutung für Sie ist?

Goethes Arbeitszimmer hat schon eine besondere Ausstrahlung, es ist ja weitgehend authentisch erhalten, und man kann sich richtig vorstellen, wie »Faust II« dort entstanden ist. Ich war immer gern in diesem Haus – angefangen bei der breiten Treppe, die Goethe extra so hat bauen lassen, als er aus Italien zurückkam, bis zu den vielen Renaissance-Reproduktionen oder der großen Juno-Skulptur. Gegen die Enge und Kleingeistigkeit, auch der damaligen Zeit, war das ein Statement!

Als junge Frau, so haben Sie in verschiedenen Interviews gesagt, haben Sie sich »Faust Erster und Zweiter Teil« auswendig eingeprägt. Gibt es Verse, die heute noch in Ihnen nachwirken?

Wir reden über etwas – das muss ich ehrlicherweise zugeben –, das fast 40 Jahre zurückliegt. Ich kann den »Faust« heute nicht mehr auswendig, aber wenn ich Verse höre, vor allem aus »Faust I«, erinnere ich mich noch, wie es weitergeht. Bei »Faust II« war beim Auswendiglernen für mich vor allem der Anreiz, jeden Vers wirklich zu verstehen. Denn um sich etwas zu merken, muss man es verstehen. Gerade bei »Faust II« steckt so viel in jeder Zeile; vieles habe ich tatsächlich erst dadurch entdeckt. Es ging mir um diese sehr intensive Art der Auseinandersetzung.

Gibt es jenseits von Goethe, bei anderen Autoren oder in den anderen Künsten, diese Konzentration von Erkenntnis, die Sie heute noch suchen oder auch gefunden haben?

Sicher. Bei Peter Hacks etwa. Es gibt kaum einen Dichter, der im 20. Jahrhundert noch solche Verse schreiben konnte. Auch bei Thomas Mann, etwa im »Doktor Faustus«, finde ich Dinge, die uns immer noch oder, genauer, heute erst recht wieder bewegen. Ich lese natürlich auch zeitgenössische Literatur, die Romane von Juli Zeh etwa. Natürlich ist der Roman unserer Zeit etwas anderes als »Wilhelm Meisters Lehrjahre«. Aber Zeh übersetzt die großen Debatten unserer Zeit wunderbar in Charaktere und Erzählungen.

Vor mehr als sieben Jahren haben Sie in einem Interview gesagt, Sie würden sich gerne in einem Buch der Kapitalismuskritik bei Goethe widmen. Ist das ein Plan, der noch steht?

Bücher zu schreiben, war mir immer wichtig. In Talkshows und im Wahlkampf müssen Statements sehr verknappt werden. Da gibt es kaum die Möglichkeit, differenziert und tiefgründiger zu argumentieren. Seit wir das BSW gegründet haben, ist an Bücherschreiben allerdings nicht zu denken. Aber irgendwann kann ich hier vielleicht wieder eine bessere Balance finden. Ein Buch über Goethe und Hegel und darüber, was diese großen Denker uns heute noch zu sagen haben, würde ich gerne schreiben.

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