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Zwei rote Fahnen
Textile Texte (11): Ein Parka, den eine Freundin unserem Autor vor langer Zeit überlassen hat, erinnert an sie und die gemeinsame Antifa-Sozialisation
Nachdem Sonja Anfang Juni gestorben war, fand ich an meiner Garderobe eine braune Jacke wieder, die ich schon lange mit mir herumschleppe. Ich hatte sie mir vor mehr als 20 Jahren von ihr geliehen und sie nicht zurückgegeben. Das hatte sich so ergeben: Sie hatte gewusst, wo sich ihre Jacke befand, und ich, dass sie nicht mir gehörte. Wir haben es einfach so gelassen.
Es wäre zu viel zu sagen, diese Jacke hätte eine Verbindung zwischen uns aufrechterhalten. Während unseres Studiums der Kulturwissenschaften an der Bremer Uni waren wir eng miteinander befreundet und gemeinsam in mehreren linken Gruppen aktiv. Wir demonstrierten gegen deutsche und iranische Faschisten, lasen Marx, Freud und Adorno. Als sie später nach Berlin zog, gab es für mich diesen einen Gegenstand mehr, der meine Erinnerung an sie antrieb, wenn ich ihm zufällig begegnete. Er wäre dazu nicht nötig gewesen, denn Erinnerungen gab es auch so genug. Heute verbleibt die Jacke als eine Art abgestreifte zweite Haut, als Rest von ihr bei mir. Durch Sonjas Abwesenheit hat sich nun ihre Jacke verändert und ihre Präsenz so sehr verstärkt, dass sie beispielsweise Gegenstand dieses Textes werden konnte.
Mode und Verzweiflung: In diesem Sommer beschäftigt sich das nd-Feuilleton mit Hosen, Hemden, Hüten und allem, was sonst noch zum Style gehört.
2001 waren wir zusammen in Amsterdam. Es war ein kalter und windiger Mai, und natürlich hatte ich für die Reise nicht genügend warme Sachen eingepackt. Sie lieh mir diese braune Jacke, einen Parka der Marke Rodeo, der Kinderlinie der Kaufhauskette C & A. Zum Logo gehört das Bild eines kleinen blauen Pferdes mit langer Mähne, langen Ohren, langem Schweif. Das andere Bild muss Sonja selbst unterhalb der rechten Außentasche angebracht haben: einen fast quadratischen Aufnäher der Antifaschistischen Aktion – weißer Hintergrund, zwei rote Fahnen im Kreis.
Die Jacke war ein Zufallskauf, vielleicht von einem Flohmarkt, vielleicht aus einem Second-Hand-Laden. Sie war eigentlich weder für Sonja noch für mich gemacht, sondern richtete sich an Eltern groß gewachsener Kinder, auf der Suche nach einem günstigen Kleidungsstück. Der Aufnäher dagegen war eine bewusste Entscheidung. Wahrscheinlich hatte sie ihn in einem linken Infoladen gekauft. Jedenfalls war es kein Zufall, dass sie ihn gekauft hatte, kein Zufall, dass er auf dieser Jacke gelandet war, und kein Zufall, dass ich eine Weile damit an meiner Seite herumgelaufen bin.
Der Aufnäher war eine politische Selbstverortung oder -vergewisserung. Gleichzeitig trug er eine politische Botschaft nach außen, die vor allem mit Abgrenzung zu tun gehabt haben musste: Mit seinen beiden roten Fahnen bezeugte er eine gewisse Präzision und Strenge, vielleicht sogar Dogmatismus. Denn zwei rote Fahnen fordern keine besonders breite, pluralistische Front. Selbst wenn sie in ihrer ursprünglichen Form 1932 eine Einheitsfront zwischen Kommunisten und Sozialisten symbolisieren sollten.
Um das Jahr 2000 herum sah man meist die Kombination einer schwarzen, anarchistischen, und einer roten, kommunistischen, Fahne. Eine Reminiszenz nicht zuletzt an die republikanischen Brigaden des Spanischen Bürgerkrieges. Man sah sie beispielsweise an den Fassaden von autonomen Zentren, die einem pluralistischen Verständnis folgen müssen, um möglichst viele radikale Linke anzusprechen und in ihren Räumen zu versammeln.
Uns waren solche Überlegungen fremd. Natürlich wären wir gerne mehr gewesen, als wir es waren, nicht aber auf Kosten einer wahren Erkenntnis. Für unsere Marx-Lektüre war das Fetischkapitel aus dem ersten Band des »Kapitals« zentral. Ausgehend von diesem Textfragment ließ sich die Marx’sche Theorie erkenntnistheoretisch lesen. Bakunin oder Kropotkin spielten für uns keine Rolle. So mussten auf der Jacke einfach zwei rote Fahnen sein, denn zwei rote Fahnen waren einfach wahrer als nur eine.
Dieser Parka ist nicht im eigentlichen Sinne schön. Er hat einen weiten Schnitt, und auch die Ärmel sind recht weit geschnitten. Der Aufnäher ist nicht ganz gerade angebracht. Eigentlich passt er auch nicht so richtig zur Jacke. Man kann ihm seine Nachträglichkeit ansehen. Antifa-Kleidung war oft selbst gemacht. Aufnäher konnte man leicht selbst anbringen, T-Shirts konnte man in den Siebdruckwerkstätten der autonomen Zentren selbst bedrucken. Dass diese Kleider selbst gemacht waren, konnte man sehen.
Professionell gefertigte Antifa-Kleidung, solche also, die es fertig zu kaufen gab, war leider auch nicht schöner. In der Manteuffelstraße in Berlin-Kreuzberg gab es etwa den Gemischtwarenladen für Revolutionsbedarf. Der Laden befindet sich heute wenige Meter weiter in der Falckensteinstraße. Man konnte dort unter anderem T-Shirts mit Antifa-Emblemen kaufen. Die Schnitte erinnerten zunächst an Säcke.
Es dauerte noch wenige Jahre, bis Mailorder-Kataloge wie Mob Action aus Leipzig Kleider aus guten Materialien, mit festem, gummiertem Druck und körperbetonten Schnitten anboten. Auf dessen Website präsentierten gut gebaute Antifa-Fighter die angebotene Kleidung, vermummt mit Sonnenbrille, Mundschutz und Perücke. Mob Action blieb nicht der einzige Mailorder-Katalog dieser Art. Diese Entwicklung bedeutete vielleicht nicht das Ende der DIY-Kultur der radikalen Linken. »Do it Yourself« aber galt nicht mehr als Standard, und es gab einen ironisierten Blick darauf.
Ich bin mir nicht sicher, ob Sonja ihre Jacke heute noch tragen würde, mit Mitte 40, als angehende Psychoanalytikerin. Die beiden roten Fahnen wären mit großer Sicherheit okay, selbst gemacht wäre es nicht. Wann ich sie zuletzt getragen habe, weiß ich nicht mehr. Zuletzt erinnere ich den Besuch einer Klasse der Leipziger Kunsthochschule in meiner eben erst eröffneten Galerie vor zehn Jahren. Im Eingang hatte das Künstlerduo Reinecke & Wimmer einen Blumenkübel aus Beton aufgestellt, der aussah wie der Stammheimer Knast. Jemand stellte tuschelnd die Frage, ob das tatsächlich eine kommerzielle linke Programmgalerie sei. Irgendjemand anderes deutete auf den Aufnäher auf ihrem, meinem Parka.
Der Autor betreibt in Bremen die Galerie K Strich.
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