Gespräche über Gaza: Die zerbrochene Brille

Miriam Sachs führte über Jahre Gespräche mit einem Freund aus Gaza über Gewalt, Opfer- und Täterrollen

  • Miriam Sachs
  • Lesedauer: 8 Min.
Deeb schreitet ein.
Deeb schreitet ein.

Deeb E., damals Anfang 30, offener Blick hinter einer fröhlich-eckigen Brille lernte ich 2018 als den »IT-Guy« und Techniker eines Theaterensembles in Gaza kennen. Im Laufe der Jahre half er nicht nur, ein Theaterformat zwischen Berlin und Gaza mitzuentwickeln, sondern geriet auch in ungebundene Spielfreude und selbst auf die Bühne. »Hier kann ich alles sein. Ich kann fliegen wie Batman, in einem Glas Wasser um mein Leben schwimmen, die Fantasie hat keine Grenzen«, sagte er damals.

Deeb wuchs in Gaza auf, im lebendigen Chaos des Quartiers Scheikh al Rodwan. Der Hamas-Mitbegründer Scheich Jassin lebte in der Nachbarschaft und besuchte Deeb einmal (im Traum). Er legte ihm nahe, der Hamas beizutreten. Er sei jetzt ein Mann, es sei an der Zeit. Deeb wollte aber nicht. Er müsse seine eigenen Werte finden. »Was sind denn deine Werte?«, fragte Scheich Jassin im Traum, den Deeb wiederum mir in einer Probenpause erzählte, auf der Terrasse eines Hochhaus-Apartments namens »Dream«. In seinem Traum versprach Deeb dem Scheich, wenn schon nicht der Hamas beizutreten, so doch gottesfürchtiger zu leben.

Deeb habe seitdem die Welt mit anderen Augen gesehen – prompt nahm er seine Brille ab. Ohne Brille sah er verschlafen aus, kniff die Augen zu, putzte die Gläser. Er schien blind wie ein Maulwurf. Es sei ganz einfach: »Wenn wir an Gott zweifeln, wer kann uns dann noch helfen? Er ist derjenige, der über alles verfügt. Wir glauben, dass er immer das wählt, was am besten für uns ist.«

»Vielleicht brauchen wir zehn Jahre lang, um uns von diesem Krieg zu erholen und wieder wir selbst zu sein.«

Deeb E.

»Heißt das, man ist so allein im Leid, dass man es sich nicht leisten kann, nicht zu glauben?« Für mich klang es eher nach letztem Strohhalm. »Es ist doch jetzt gerade alles andere als bestens.« – »Ansichtssache«, Deeb lachte und setzte die Brille wieder auf.

»Jetzt gerade«, das war im November 2019. Drei Tage lang flogen Raketen, die Situation drohte zu eskalieren. Ich war überrascht, dass fast alle trotzdem weiter proben wollten. Am Vormittag war ich noch durch den Schutt der von der israelischen Armee zerstörten Büros von Human Rights Watch geklettert und hatte mir eine Probenpause heimlich gewünscht.

»Natürlich wollen wir weitermachen! Wenn wir jedes Mal, wenn Bomben fallen, aufhören würden, unsere Visionen zu verfolgen, würden wir es zu nichts bringen.« Deeb drehte sich erst mal eine Zigarette. Neben ihm saß sein 15-jähriger Neffe, der aktuelle Meldungen eines Netzwerkes checkte. »Das war nicht Israel!«, sagte er, immer noch in sein Handy vertieft. »Was war Israel nicht?« – »Das mit Human Rights!« Eine fehlgeleitete Rakete aus Gaza habe deren Büro zerstört. »Da siehst du den Unterschied zwischen der Hamas damals und der von heute«, sagte Deeb.

Die alten Gründungsmitglieder, sagte er, hätten nie die eigene Bevölkerung angegriffen. Scheich Jassin wollte Israel bekämpfen, aber nie an die Macht. »Und er hat im Kampf immer Pausen gelassen, damit die Menschen, die in Israel arbeiten durften, auch Phasen hatten, in denen sie arbeiten konnten.«

»Weil er sie als Selbstmordattentäter brauchte?!«, schoss es aus mir heraus. Ich hasste den Scheich, der so ehrwürdig wirkte in seinem Rollstuhl, mit seinem Dumbledore-Bart, aber Menschen instrumentalisierte, indem er sie mit Haut und Haar zur Waffe machte.

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Sei das denn weniger unmenschlich, »die eigene Bevölkerung angreifen und es anderen in die Schuhe schieben?«, fragte Deeb und drückte den Rest seiner Zigarette aus. »Wenn Israel uns beschießt, nutzen sie die Gelegenheit, Institutionen, die sie selbst gerne loswerden möchten oder die ihre Schutzgelder nicht bezahlen, versehentlich mit ›friendly fire‹ zu treffen. Das hätte die alte Hamas-Garde nie gemacht.«

»Das war aber nicht Hamas!«, sagte der Neffe. – »Was war Hamas nicht?« – »Das mit Human Rights war der Islamische Dschihad.«

Der radikaler agierende Islamische Dschihad hatte 2019 die Situation eskalieren lassen, während sich die regierende Hamas einerseits distanzierte und sich eine ganze Weile friedlicher gab, den Terror sozusagen outsourcte, um selbst umso sicherer im Sattel zu sitzen. Außerdem bot der immer noch amtierende Hamas-Anführer Yahya Al Sinwar damals jungen Leuten in Gaza säbelrasselnde Zukunftsperspektiven: »Wir haben Zugriff auf Zehntausende von Raketen, die bis Tel Aviv reichen und kleine Städte in Israel in Geisterstädte verwandeln können …« Das klang damals wie Prahlerei. Erst im Nachhinein wirkt die Rede wie die Ankündigung des 7. Oktobers.

2023 gehen meine Gedanken auf Facebook ins Leere: Deeb und seine Familie fliehen aus Gaza, irren von Lager zu Lager wie 1,3 Millionen Zivilisten auch. Während sich die Hamas unter der Stadt mit jüdischen Geiseln verschanzt und die Gesellschaft, die sie eigentlich schützen sollte, ebenfalls in eine Art Geiselhaft nimmt. Erst 2024, angekommen in Rafah, erreiche ich Deeb via Whatsapp: »Warum stehen immer noch Menschen hinter der Hamas?« Er hustet, als hätte er sich an der Zahl 42 Prozent verschluckt, die ich erwähne – Menschen, die laut Statistik in Gaza immer noch pro Hamas sind. Er glaubt, sich verhört zu haben, und lacht, hustet wieder: »Wieso sollten wir sie mögen, gerade jetzt? Sie lassen uns mehr denn je im Stich, es ist ihnen egal, was aus uns wird.«

Wann genau ließen denn die Kämpfer die Selbstmordattentate sein, um zu einem Massaker-Heer zu werden? Erst im Februar 2024 stelle ich die Frage. Die Verbindung ist gut, Deeb schweigt. »Ich meine, das sind Männer, die sonst nicht mal einer Frau die Hand schütteln dürfen, weil’s nicht halal ist – jetzt vergewaltigen sie, schänden Leichen und stellen es ins Netz?« Es dauert, bis er mit belegter Stimme antwortet: »Ich glaube nicht, dass die Hamas-Typen so was gemacht haben. Niemand ist zu so was fähig und kann dann sagen: Das war gut.« – »Wie bitte?« Sein Erstaunen darüber, dass ich so schlimme Taten überhaupt für menschenmöglich halte, macht mich ebenfalls sprachlos.

Deeb, sonst offen für unbequeme Wahrheiten, wirkt allen Ernstes überzeugt: »Das sind israelische Geschichten.« Schlicht und ergreifend, weil die Taten undenkbar sind? »Jeder auf dieser Welt, der normal ist, will nicht, dass solche Dinge geschehen.« Niemand würde Hamas darin unterstützen, nicht einmal Hamas würde Hamas darin unterstützen, sagt Deeb. Im Hintergrund sind jetzt Schüsse zu hören, sehr nah.

Die Verbindung bricht ab. Nicht an den Schüssen liegt es, sondern am bayerischen Internet. Erst früh um vier erhalte ich Voice Mails, stumm, jemand betet in der Ferne, ansonsten Detonationen und Schüsse.

Am nächsten Morgen herrscht Erleichterung: Alle leben noch! Man hört, wie Deebs Frau Rula versucht, auf dem morastigen Boden Feuer zu machen. Nicht mit Holz, sondern mit Plastikmüll. Husten deshalb alle? Alle Kindern sind krank. Medizin gibt es nicht. »Wenn man sich um vier Uhr früh bei einer Klinik in der Nähe anstellt, kann es sein, dass man abends ein Päckchen Paracetamol ergattert«, sagt Deeb. »Gegen Husten?«, frage ich.

Vor ein paar Wochen hatte Deeb die Situation im Lager noch so beschrieben: »Wie Camping, nur ohne Duschen, aber mit Bomben.« Inzwischen spricht er ernster. Erstmals seien nicht nur die Israelis die Feinde: »Um zu überleben, kämpfen die Menschen untereinander.« Auch das hätte Leuten das Leben gekostet. »Ich habe dabei nur meine Brille eingebüßt.«

Dafür steht sein Haus noch. Es ist stark beschädigt, die Israelis hätten die Tür eingetreten und alles durchsucht, die Leitungen zerstört, so erzählt es ein Freund, der im Norden geblieben ist. Später sei sein Haus gänzlich verwüstet worden von den Plünderern. Nur Chais’ Playstation sei wie durch ein Wunder unentdeckt geblieben. »Wenn ich nach Hause kann, spiele ich Tag und Nacht damit«, stellt sich der Achtjährige vor. »Und wer sie mir wegnehmen will, egal ob Hamas oder Israel, den haue ich, bis ich nicht mehr kann.« Deebs in Gaza gebliebener Freund habe auch von den vielen namenlosen Leichen erzählt, die überall herumlägen. »Katzen und Hunde fressen ihnen die Gesichter weg.«

»Vielleicht brauchen wir zehn Jahre lang, um uns von diesem Krieg zu erholen und wieder wir selbst zu sein«, sagt Deeb. »Rula hat mir bisher nicht verziehen, dass wir aus Gaza weg sind und ihren Vater, der darauf bestand, in seinem Haus zu bleiben, zurückgelassen haben – obwohl sie selbst damals außer sich war und nichts wollte als raus aus dem Raketenhagel und die Kinder in Sicherheit bringen.«

Auf Fotos erkenne ich sie kaum noch. Chais wirkt so abgeklärt. Wenn man ihn fragt, was er sich am meisten wünscht, sagt er: »Ich will ins Paradies.« Da sei Ruhe. Sein kleiner Bruder Jussep wünscht sich ein E-Piano. Er hat keine Erinnerungen mehr an zu Hause.

Die verlorene Brille ist nur der winzigste aller Kollateralschäden, aber ich assoziiere ihn mit verlorenem Durchblick, verlorener Rücksicht, Weitsicht. Kann ich erwarten, dass Deeb sich mit zusammengekniffenen Augen die israelische Sicht der Dinge im Internet reingoogelt? Stattdessen schicke ich das Foto von damals, als er den Kids am Strand ins Gewissen geredet hat: Was mag aus ihnen geworden sein? »Vielleicht sind sie Freunde geworden?!«, schreibt er auf Facebook. Und setzt ein »Haha!« hinterher.

Ich antworte: »Nur weil du gesagt hast: ›Hört auf mit der Gewalt!‹?« – »Rein statistisch gesehen, wäre einer von ihnen bei der Hamas«, schreibe ich zurück und überlege, welcher das dann wäre: der Schläger, der Geschlagene oder der, der abgestumpft Schmiere steht?

»Wahrscheinlich sind sie im Krieg gestorben«, schreibt Deeb zurück. Alles sei möglich in diesen Zeiten. »Aber ich hoffe, es geht ihnen gut.«

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