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»Kinder sind ein Publikum, das begeistert werden muss«
Die Dokumentarfilmerin Ruth Beckermann über ihre Langzeitstudie »Favoriten«, die eine österreichische Schulklasse begleitete
Sie haben, nachdem Sie drei Jahre lang in einer Klasse einer sogenannten Brennpunktschule gedreht haben, gesagt, dass Lehrer*innen eine Schauspielausbildung bekommen sollten.
Das war natürlich nicht so ernst gemeint, aber die Kinder sind ein Publikum, das begeistert werden muss, das mitgenommen werden soll, dessen Aufmerksamkeit erhalten werden muss, und jeder Tag ist sehr lang in so einer Schulklasse. Nur wenige Lehrer schaffen das. Die Ausstrahlung und die Authentizität einer Lehrkraft machen sehr viel aus, und das spüren Kinder.
Verstehen Sie Ihren Film als Kritik am Schulsystem?
Ja, implizit sehr wohl. Ich wollte ein positives Beispiel zeigen mit einer unglaublich engagierten Lehrerin. Jedem, der den Film sieht, wird klar, dass diese Lehrerin allein in der Klasse steht, dass die Kinder sprachliche Defizite haben, obwohl sie am Ende des Films schon in der vierten Klasse sind. Es gibt viele Diskussionen über das mangelhafte Bildungssystem, die der Film mit ausgelöst hat.
Was müsste sich ändern?
Ich bin keine Politikerin und keine Pädagogin, aber es ist logisch, dass Kinder bereits vor Schulantritt, der erst mit sechs Jahren in Österreich Pflicht ist, Deutsch lernen müssen. Und zwar nicht nur in Kindergärten, sondern in Vorschulen, wo ganz gezielt Deutsch als Fremdsprache gelehrt wird, damit sie es, wenn sie in die Schule kommen, wirklich perfekt können. Man sieht ja, dass intelligente Kinder im Rechnen etwa die Textbeispiele nicht verstehen.
Ruth Beckermann, 1952 in Wien geboren, ist eine der profiliertesten österreichischen Dokumentarfilmerinnen. Sie studierte in Wien und Tel Aviv Publizistik und Kunstgeschichte sowie Fotografie in New York. Im Februar 2018 lief ihre Doku »Waldheims Walzer« über den Politiker und ehemaligen UN-Generalsekretär Kurt Waldheim und seine möglichen Verstrickungen in NS-Verbrechen auf der Berlinale. Der Film wurde auf dem Festival als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet und ging für Österreich ins Oscar-Rennen. Ihr neuester Film »Favoriten« feierte im Februar 2024 Premiere auf der Berlinale.
Waren alle Familien sofort damit einverstanden, dass ihre Kinder während des Unterrichts gefilmt wurden? Und gab es eine Art Vetorecht für bestimmte Szenen, weil manche Kinder auch in unangenehmen Situationen zu sehen sind?
Ich wundere mich über diese Frage. Haben Sie den Film so empfunden?
Die Kinder werden mit viel Empathie gezeigt. Aber es ist zum Beispiel auch zu sehen, wie ein Mädchen quälend lange immer wieder an einer Rechenaufgabe scheitert.
Aber stellen Sie sich einmal die Frage, was die gleichen Menschen alles ins Internet stellen. Da stellen Sie keine Fragen als Journalistin. Sie fragen eine Filmemacherin, die drei Jahre lang gedreht hat, ob die Menschen wussten, was sie dreht oder dass sie dreht. Das ist doch klar.
An deutschen Schulen und Kitas gibt es sehr strenge Datenschutzvorschriften für Fotos und Filmaufnahmen. Es hätte ja auch sein können, dass Sie zum Beispiel ein bestimmtes Kind nicht filmen durften.
Nein, das war nicht der Fall. Wir wurden den Eltern vorgestellt, wir haben Drehgenehmigungen von allen. Manche haben bereits Teile gesehen, manche kennen den ganzen Film schon von der Berlinale oder der Diagonale in Graz. Bis jetzt sind alle begeistert.
Eine moderne Pädagogik, etwa die bedürfnisorientierte Pädagogik, zweifelt manche der in Schulen immer noch üblichen Methoden an. Ich nehme die Lehrerin in Ihrem Film als sehr engagiert wahr, besonders wenn sie mit den Kindern diskutiert und ihren verschiedenen kulturellen Hintergründen viel Verständnis entgegenbringt. Dass sie Kinder mit Kosenamen anspricht oder mit einem bösen Blick zum Schweigen bringt, würde man in dieser Pädagogik allerdings kritisch sehen.
Ich bin Filmschaffende und ich bin weder bedürfnisorientiert noch sonst was. Und ich weiß nicht, warum ich hier Dinge gefragt werde, die ich ehrlich gesagt lächerlich finde. Es wäre schön, wenn alle Lehrerinnen so eine Herzlichkeit hätten und die Kinder mit Schatzi oder wie auch immer ansprechen würden und nicht eiskalt, so wie Sie das anscheinend gut finden.
Eiskalt gar nicht, es geht um eine wertschätzende und respektvolle Pädagogik.
Warum ist es nicht Wertschätzung, wenn man ein Kind mit Schatzi anspricht? Was spricht dagegen?
Man könnte ja erst mal fragen, ob das Kind das überhaupt möchte. Man müsste Daniel fragen, ob er so genannt werden möchte. Es ist eine Verniedlichung
Ich weiß nicht, ob Sie Kinder haben, aber man spricht kleine Kinder oft mit Kosennamen an. Wenn ein Kind Daniel heißt, darf man es dann auch nicht Dani nennen?
Es war Ihre Idee, dass die Kinder sich auch gegenseitig filmen, und Sie lassen ihre Videos in den Film einfließen. Wurde dieses Filmen zum Teil des Unterrichts oder fand das außerhalb statt?
Nein, das war schon während des Unterrichts, dass die Kinder die Handys hatten und einander interviewt haben. Die Lehrerin fand die Idee gut. Wir konnten auch mit kleinen Gruppen von Kindern zum Beispiel auf den Markt gehen – da gab es großes Vertrauen in uns, sowohl von den Eltern wie von der Schule.
Haben Sie etwas von den jungen Filmemacher*innen gelernt?
Ich wollte die Kinder nicht nur als Schüler zeigen, wollte aber auch nicht in die Familien hinein, in die Wohnungen, sondern im Schulkontext bleiben. Und durch diese Interviews kamen überraschende Dinge heraus. Etwa, dass einer in Dubai leben will, oder dieses Interview mit der Lehrerin, das die Kinder gemacht haben, als wir gar nicht da waren. Es gab einfach überraschende Themen und Antworten, und das fand ich sehr erfrischend.
»Favoriten«, Österreich 2024. Regie: Ruth Beckermann. 119 Minuten, Start: 19.9.
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