Wenn der Hunger besiegt ist, wird Kultur wichtig

Die Erinnerungen von Peter Schreiber an seine Haft in sowjetischen Lagern

  • Werner Abel
  • Lesedauer: 5 Min.
Blick auf die Gedenkstätte Fünfreichen, wo sich ein sowjetisches Speziallager befand
Blick auf die Gedenkstätte Fünfreichen, wo sich ein sowjetisches Speziallager befand

Oberstleutnant Wladimir A. Schmeis, ein aus einer jüdischen Familie stammender sowjetischer Offizier, war vom April 1945 bis zum März 1948 Kommandant des sowjetischen Speziallagers Nr. 9 in Fünfeichen am Rande Neubrandenburgs. Dieses Lager war eins der zehn sowjetischen Lagern auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone, in der Zeit seiner Existenz waren hier 15 400 Personen inhaftiert worden, bis zu 10 000 pro Jahr. Inhaftiert waren keine Kriegsgefangenen, sondern mehr oder weniger ins NS-System involvierte Personen, Menschen, die antisowjetischer Aktivitäten verdächtigt wurden oder einfach denunziert worden waren. Die Todesrate, wie die der anderen sowjetischen Lager auch, war zeitweilig hoch. Aber unter Oberstleutnant Schmeis, nach dessen Namen man in der Literatur vergebens sucht, war die Situation eine andere.

Schmeis, der vermutlich die Kämpfe der Roten Armee von den sowjetischen Fronten bis nach Deutschland mitgemacht hat, wird viel gesehen haben: Die Leichenberge, die zerstörten Städte und Ortschaften, die Vernichtungslager, all die Blutspuren, die der faschistische Vernichtungskrieg im Osten hinterlassen hatte. Aber trotzdem versuchte er, das Leben der ihm unterstellten Gefangenen physisch und psychisch zu verbessern, die Hungersnot einzudämmen und mit sinnvoller Arbeit den Inhaftierten eine Perspektive zu bieten. Dem ihm unterstellten sowjetischen Personal verbot er, gegenüber den Inhaftierten Gewalt anzuwenden. Seltsam also, dass das bisher nirgendwo erwähnt wurde und dass erst einer der letzten Zeitzeugen, der nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs wegen »Werwolf-Verdachts« inhaftierte Peter Schreiber in seiner Autobiografie Wladimir A. Schmeis aus der Vergessenheit holte und ihm ein literarisches Denkmal setzte.

Schreiber hatte nach seiner Verhaftung in einem kleinen Dorf bei Dresden das Gefängnis Bautzen und die sich auf polnischem Territorium befindlichen Lager Graudenz (Grudziądz) und Tost (Toszek) überlebt, in denen Tod, Hunger, Gewalt und Lethargie herrschte. Für ihn, den Fünfzehnjährigen, war es ein Glück, dass er nie krank wurde. Aber die ungewisse Zukunft und der Hunger machten auch ihm zu schaffen.

Jahrgang 1929, gehört er jener Generation an, deren Kindheit und frühe Jugend vom Nationalsozialismus geprägt wurde. Sein Vater, eine Spielernatur, brachte die Familie oft unters Existenzminimum. Seine Mutter hingegen, souverän und berechnend, trat in die NS-Frauenschaft ein. Als er das Alter dafür erreicht hatte, trat auch Peter Schreiber in die Hitlerjugend ein, ein überzeugter Nazi war er indes nie.

Das Grauen des Krieges erlebte er im bombardierten Dresden, als er inmitten der zahllosen Leichen und brennenden Ruinen nach seiner Freundin suchte. Als die Fronten näher rückten, wollten die Nazis Partisanenverbände, »Werwölfe« genannt, für den Kampf hinter den feindlichen Linien aufstellen. Im Ganzen gesehen blieb das nur bei der Absicht, aber die Angehörigen der HJ sollten an Waffen ausgebildet werden. So auch Schreiber als »Panzerjäger«. Ohne zum Einsatz zu kommen, wurden die Jugendlichen nach Hause geschickt, die Verantwortlichen hatten sich längst abgesetzt. Dann war plötzlich Frieden, den Schreiber nicht genießen konnte, denn er wurde verhaftet.

»Wenn ich jemand eine Schuld zuweisen würde, wären das Hitler und seine Helfershelfer.«

Es gab nur ein Verhör in den fünf Jahren seiner Haft. Nach dem grauenhaften Alltag in Lagern in Schlesien, nunmehr Polen, muss Fünfeichen für ihn wie eine Erlösung, wenn auch in Unfreiheit, vorgekommen sein. Man war hier, schreibt er, kein würdeloser Häftling mehr. Oberstleutnant Schmeis hatte Kartoffeln anbauen lassen, um den Hunger einzudämmen. Häftlinge fuhren mit sowjetischen Soldaten in ihre Heimatorte, um Maschinen zu kaufen, im Lager wurde das Handwerk gefördert. Schreiber lässt Schmeis sagen: »Die Leute müssen sich beschäftigen. Und sie brauchen Kultur. Wenn der Hunger besiegt ist, wird die Kultur wichtig. Etwas, das die Leute zum Nachdenken und Reden zwingt, das sie zusammenhält.« Das Ergebnis war z.B. eine Theaterbaracke, deren Aufführungen von den Häftlingen wochenlang diskutiert wurden.

Durch die Arbeiten in den Werkstätten erfuhr Peter Schreiber seine Bestimmung, die Liebe zum metallverarbeitenden Beruf. Die erworbenen Kenntnisse waren für ihn von großem Nutzen, als er nach der Schließung von Fünfeichen er ins Internierungslager Buchenwald kam. Der unschuldig Verhaftete wurde 1950 in die Freiheit entlassen, lernte Werkzeugmacher und begann ein Ingenieurstudium in Dresden. 1953 bot man ihm sogar an, Mitglied der SED zu werden. Aus undurchsichtigen Gründen dann jedoch von der Staatssicherheit verhaftet, stellte man ihn vor die Alternative, entweder bis zu einem Prozess im Gefängnis zu bleiben oder als Informant tätig zu werden. Er sagte pro forma zu, die fünf unschuldig im Lager verlorenen Jahre aber waren genug und er verließ die DDR. Er setzte sein Studium fort, arbeitete auch in den USA und eine von ihm präsidierte Firma wurde schließlich Weltmarktführer für Narkosegeräte. Peter Schreiber war einer der vielen wertvollen Menschen, die die DDR durch eine hypertrophe Sicherheitspolitik verloren hatte.

Es ist ein ungewöhnliches Buch, frei von Hass und Bedürfnis nach Abrechnung. Das Fazit von Peter Schreiber: Nicht der Kommissar, der ihn verhörte, und nicht die sowjetischen Bewacher und Bürokraten, die seine Akte bis Buchenwald weitergaben, sind die Schuldigen. »Wenn ich jemand eine Schuld zuweisen würde, wären das in einer abstrakten Weise Hitler und seine Helfershelfer, welche diesen mörderischen Krieg und mit ihm unermessliches Leid über die Welt gebracht haben.« Und konkrete Schuld habe jener SS-Obersturmführer, ein williger Vollstrecker der Nazi-Ideologie, der unerfahrene, halbwüchsige Jungen in eine Sache hineinzog, von der er wissen musste, dass sie für die meisten schrecklich, gar tödlich enden würde.

Dass aus der Erzählung Peter Schreibers so ein fesselndes Buch geworden ist, dafür hat mit Sicherheit auch der literatur- und verlagserfahrene Gerd Püschel gesorgt, der die Erinnerungen Schreibers aufgeschrieben hat.

Peter Schreiber: Was aus dem Dunklen leuchtet. Autobiografie 1929–1953. Aufgeschrieben von Gerd Püschel. Osburg Verlag, 400 S., geb., 28 €.

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