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Antiautoritarismus statt Märtyrerkult

Das 1932 erschienene Buch »Gewalt und Terror in der Revolution« von Isaak Nahman Steinberg wirft einen kritischen Blick auf die Oktoberrevolution

Unter anderem auch ein Gemetzel: der revolutionäre Sturm auf die Hermitage, St. Petersburg im Oktober 1917
Unter anderem auch ein Gemetzel: der revolutionäre Sturm auf die Hermitage, St. Petersburg im Oktober 1917

Den Namen Isaak Nahman Steinberg findet man auf der nur mühsam rekonstruierbaren, keineswegs aber kurzen Liste der vergessenen und weitgehend unbekannten Revolutionäre«. Dies schreibt der Soziologe Hendrik Wallat in der Publikation »Isaak Steinberg – Sozialrevolutionär und jüdischer Intellektueller« aus dem Jahr 2014, die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegeben wurde. Wallat hat mit seinen Forschungsarbeiten dafür gesorgt, dass Steinberg nicht mehr ganz so unbekannt ist. Jetzt gibt es sogar die Gelegenheit, eine zentrale Schrift von ihm wieder zu lesen: Unter dem Titel »Gewalt und Terror in der Revolution« erschien jüngst eine Neuauflage von Steinbergs Buch aus dem Jahr 1931; bereits 1974 hatte es eine deutschsprachige Ausgabe gegeben, die längst vergriffen ist. Wenn der Verlag das Buch auf der Rückseite »als Neuauflage eines Schlüsselwerks zum Verständnis der sowjetisch-russischen Geschichte von der russischen Revolution bis in die Gegenwart« bewirbt, ist man als Leser*in angesichts solcher Superlative erst einmal zurückhaltend. Aber die Bezeichnung Steinbergs als »Vorläufer späterer bedeutender politikwissenschaftlicher Werke etwa von Hannah Arendt« ist tatsächlich nicht zu hoch gegriffen.

Warnung vor Autoritarismus

Steinberg gehörte zur Gruppe derjenigen, die vor den autoritären Tendenzen im Sozialismus sehr früh warnten, ohne deswegen den Kapitalismus zu verteidigen. Dies unterscheidet ihn von Theoretikern wie Karl Kautsky, der zwar schon 1919 das Buch »Bolschewismus und Terror« herausbrachte, bei dem jedoch schnell erkennbar wird, dass er damit die Sozialdemokratie verteidigen wollte – obwohl diese allein in den Jahren 1918 bis 1923 für Morde an Tausenden aufständischen Arbeiter*innen in Deutschland verantwortlich war. Steinberg war als führender Politiker der Linken Sozialrevolutionäre auch einer der Protagonist*innen der Oktoberrevolution. An dieser waren nämlich nicht nur die Bolschewiki beteiligt, wie es die stalinistische Hagiographie später behaupten würde, in einer Lesart, die antiautoritäre Linke übrigens bis heute reproduzieren, wenn sie die Oktoberrevolution als bloßen autoritären Putsch der Bolschewiki abqualifizieren. Wenig bekannt ist heute auch, dass Anarchist*innen dafür sorgten, dass die Konstituante geschlossen wurde, ein nach der Oktoberrevolution 1917 gewähltes, mehrheitlich von bürgerlichen Parteien beherrschtes Parlament. Ein bürgerliches Parlament wurde in einer Räterepublik nicht mehr gebraucht, war damals die Überzeugung vieler Linker jenseits der Bolschewiki.

Steinbergs Schrift kann als Antidot gegen jeden Autoritarismus im Namen der Revolution gelesen werden.

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Die Linken Sozialrevolutionäre waren nicht nur treibende Kräfte in der Oktoberrevolution, sondern bildeten danach gemeinsam mit den Bolschewiki eine Koalitionsregierung. In dieser Regierung amtierte Issak Steinberg vom Dezember 1917 bis März 1918 als Justizminister und legte in seinen wenigen Monaten im Amt die Grundlagen für eine sozialistische Justizreform, die Autoritarismus und Terror verhindern sollte. Steinberg schrieb knapp zwölf Jahre später, zu dem Zeitpunkt schon im Exil, über das Abgleiten der Oktoberrevolution in Willkür und autoritäre Herrschaft: Nach einem Attentatsversuch auf Lenin Ende 1917 hatte die bolschewistische Presse erstmals mit Drohungen gegen Vertreter*innen der gestürzten herrschenden Klassen reagiert, und die Garnison der Peter-und-Paul-Festung in St. Petersburg erinnerte ihre Gegner*innen in einer Resolution an die »Septembermorde«. Damit war das Massaker der Jakobiner im September 1792 während der Französischen Revolution gemeint. Steinberg geht in seinen moralphilosophischen Überlegungen, die »Gewalt und Terror in der Revolution« prägen, immer wieder auf diesen blutigen Umschlag der Französischen Revolution ein.

Oft stellt Steinberg sich auch die Frage, warum er und seine Genoss*innen nicht stärker den Konflikt mit den Bolschewiki suchten und sich gegen den revolutionären Terror wandten. Er gibt nachträglich eine plausible Erklärung dafür: »Die Bolschewiki? Aber ihnen galt ja diese Aufpeitschung der Leidenschaften als eine Waffe im Klassenkampf; sie suchten sie ja mit allen Mitteln zu entfesseln. Die Menschewiki und die rechten Sozialrevolutionäre? Diese waren damals Hauptstützen des Widerstands gegen die soziale Revolution. Ihre Tätigkeit war auf die Schwächung, auf die Demütigung, auf den Sturz der sozialistischen Macht gerichtet«. So beschreibt Steinberg die gesellschaftlichen Verhältnisse nach der Oktoberrevolution, die heute oft ausgeblendet werden.

Vaterlandsideologien

Leider erklärt Steinberg nicht, warum er seinen Posten als Justizminister nach wenigen Monaten verlor. Wie woanders zu erfahren ist, ging es dabei nicht um seine – erst später so prägnant formulierte – Kritik an den Bolschewiki, sondern um ein außenpolitisches Thema: den Vertrag von Brest Litowsk, den das deutsche Regime Russland oktroyierte, nachdem die Räteregierung nach der Oktoberrevolution aus dem Ersten Weltkrieg ausgeschieden war. Die junge Sowjetmacht forderte die Soldaten aller kriegsführenden Länder auf, es den russischen Soldaten nachzumachen, ebenfalls die Waffen niederzulegen und sich zu weigern, gegen die Soldaten anderer Länder zu kämpfen. Appelliert wurde an die Solidarität der Arbeiter*innen aller Länder aus der richtigen Erkenntnis heraus, dass es überwiegend Proletarier waren, die sich in den Schützengräben gegenseitig umbrachten.

Doch die Ideologie der Vaterlandsverteidigung, die auch von der großen Mehrheit der sozialdemokratischen Parteien in allen kriegsführenden Ländern verfochten wurde, war auch in großen Teilen der Bevölkerung verankert. Die Front hielt zunächst noch und der deutsche Imperialismus nutzte die Situation, um große Teile Russlands zu besetzen und sich durch diese Beute einen Diktatfrieden von Brest-Litowsk bestätigten zu lassen. Das sorgte innerhalb des revolutionären Lagers in Russland für großen Streit. Die Linken Sozialrevolutionäre wollten mit der Tötung des deutschen Botschafters in Russland die Unterzeichnung dieses Vertrags verhindern. Als Reaktion darauf mussten alle Minister*innen der Sozialrevolutionär*innen, darunter Issak Steinberg, die Regierung verlassen. Nach der Lektüre des Buches bleibt die unbeantwortete Frage, ob Steinberg und seine Genoss*innen, wenn sie länger im Amt geblieben wären, das Abgleiten in den Autoritarismus hätten verhindern können.

Die Frage der Gewalt

Steinbergs fast 100 Jahre alte Schrift ist auch heute noch mit Gewinn zu lesen, weil seine Auseinandersetzung mit der Linie der Bolschewiki eben nicht nur eine Kritik an altkommunistischen und neoleninistischen Gruppen ist. Steinbergs Schrift kann so als Antidot gegen jeden Autoritarismus im Namen der Revolution gelesen werden. Dabei betont Steinberg im Vorwort zur Originalausgabe, dass er kein Pazifist ist: »Wir bemühen uns zwischen dem Terror und der Gewalt eine Grenze zu ziehen; doch geben wir offen zu, dass diese Grenze häufig verschwinden kann.«

Steinberg geht sehr selbstkritisch mit seiner im Buch vertretenen These um, dass auch in einer Revolution kein einziger überflüssiger Tropfen Blut, keine einzige überflüssige Träne vergossen werden darf. Er räumt wenige Sätze später ein, dass die Fragen der Gewaltanwendung von Natur aus kompliziert seien. Das klingt erst einmal wie eine Phrase. Doch später formuliert Steinberg einen Anspruch, der noch heute brauchbar ist, um bloßen Militarismus von der Militanz einer emanzipatorischen Linken zu unterscheiden. »Man tritt in die Revolution mit der roten Fahne in der Hand ein; doch der schwarze Flor der Trauer umwindet diese Fahne.« Diese Trauer gilt allen Menschen, die im revolutionären Kampf ihr Leben oder ihre Gesundheit verloren haben.

Ein solches Herangehen unterscheidet sich grundlegend vom Märtyrerkult, mit dem in vielen linken Bewegungen unterschiedlicher Länder die Toten der Revolution nicht betrauert, sondern heroisiert werden. Der Heroenkult unterscheidet sich zumindest in der Form oft wenig von den nationalistischen Phrasen, mit denen man der Opfer der Kriege gedenken soll, die im Namen von Nation und Ehre geführt werden.

Steinberg betont, dass es in einer sozialen Revolution nicht darum gehen kann, die Gegner*innen einfach zu töten: »Im Gegenteil, wir wollen sie, (nicht als Stände, aber als Werktätige) für die sozialistische Gesellschaft erhalten«. Damit wendet er sich gegen Propagandisten im revolutionären Lager, die mit Begriffen wie »vernichten« und »ausmerzen« operieren. Steinberg schrieb dagegen an im Namen eines Humanismus, den er in einen Brief an den linken Schriftsteller Ernst Toller »als historisches Erbgut des Sozialismus« bezeichnet. Im Nachwort zum Buch fasst Hendrik Wallat die Streitschrift mit folgenden passenden Worten zusammen: »Die Russische Revolution war ein authentischer Akt der Massen, den Steinberg mit einem uns mittlerweile fremd gewordenen Pathos verteidigt.«

Isaak Steinberg: »Gewalt und Terror in der Revolution. Das Schicksal der Erniedrigten und Beleidigten in der russischen Revolution«. Anares Verlag 2024, 354 S., br., 25€.

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