Das übersteife Teil in der unteren Mitte

Der Groschenroman kann einpacken: Der Großmeister der erotischen Literatur heißt noch immer Martin Walser

Was ist los mit dem »übersteifen Teil«? Martin Walser, 2018
Was ist los mit dem »übersteifen Teil«? Martin Walser, 2018

Wenn sie durch den dünnen Wollstoff ihres Rocks seine anschwellende Männlichkeit spürt, wenn in Lenden Feuer entfacht wird, wenn Kehlen ein leises Stöhnen oder ein erstickter Laut entsteigt, wenn zwischen den Beinen ein heißes Pochen oder ein sanftes Beben gefühlt wird, wenn man sich gierig einer Liebkosung entgegendrängt beziehungsweise rosige Knospen sich aufrichten und auf Liebkosungen warten, wenn wahlweise meerblaue oder tiefdunkle Augen zu glühen und Herzen zu rasen beginnen, wenn volle rosige Lippen sich öffnen und heiße Münder aufeinandergepresst oder gierig in Besitz genommen werden, wenn Hände unter Blusen geschoben werden, zwischen Schenkel gleiten oder harte Schäfte umschließen, dann sind wir ohne jeden Zweifel im Reich des Trivialromans.

Die gute Kolumne

Thomas Blum ist grundsätzlich nicht einverstanden mit der herrschenden sogenannten Realität. Vorerst wird er sie nicht ändern können, aber er kann sie zurechtweisen, sie ermahnen oder ihr, wenn es nötig wird, auch mal eins überziehen. Damit das Schlechte den Rückzug antritt. Wir sind mit seinem Kampf gegen die Realität solidarisch. Daher erscheint fortan montags an dieser Stelle »Die gute Kolumne«. Nur die beste Qualität für die besten Leser*innen! Die gesammelten Texte sind zu finden unter: dasnd.de/diegute

Man kennt sie, diese Sorte Literatur, in welcher erotische Begegnungen nur in verschwiemelter und standardisierter Form geschildert werden und in der ein Geschlechterbild aus der Steinzeit fröhlich fortlebt. Schwulst, Plattitüden und Phrasen gehören zu den Bauteilen, aus welchen sich ein durchschnittliches Groschenromanheft der handelsüblichen Sorte zusammensetzt.

Schauen wir uns dagegen einen Auszug aus einem Prosawerk eines großen Dichters an, des Büchner- und Friedenspreisträgers Martin Walser, der bis heute als einer der wichtigsten deutschsprachigen Schriftsteller der Nachkriegszeit, wenn nicht gar des 20. Jahrhunderts, betrachtet wird. Walser wusste, im Gegensatz zu den eingangs zitierten Schmonzettenschmierern, wie man schreiben muss, um beim Leser das Blut vom Kopf in den Unterleib schießen zu lassen, und produzierte dabei dennoch sprachreflexiv aufgedonnerte Großkunst. In seinem Roman »Angstblüte« (2006) etwa fasste er raffiniert in Worte, wie sich die sexuelle Erregung des Protagonisten nicht nur als diffiziles Körpertemperaturproblem äußert, sondern auch als eine bislang unbekannte Variante der Ich-Dissoziation, bei welcher auf beunruhigende Weise ebenso rätselhafte wie unbeschreibliche Dinge mit dem Geschlechtsapparat vor sich gehen: »Er merkte, wie sich in der unteren Mitte Wärme sammelte, wie da Wärme zusammenfloss, wie das Geschlechtsteil anfing, sich von seinem Umfeld zu unterscheiden.«

Das ist natürlich große Dichtkunst. Was in sogenannten Schundheftchen und Hintertreppenromanen der inflationär verwendete »Schaft« und die unvermeidliche »Lustgrotte« sind, wird bei Walser, gleichermaßen evangelisch wie subtil, zur »unteren Mitte«. Auf welche geheimnisvolle Weise das »Geschlechtsteil«, das genauer zu spezifizieren der Schriftsteller sich hütet, sich »von seinem Umfeld zu unterscheiden« beginnt, spart der Profi Walser aus. Es ist, wie immer, die Andeutung, die Auslassung, das Unausgesprochene, das hier beim Leser sexuelle Erregung auslöst.

Übelwollende Stimmen behaupten zwar, die oben zitierte Stelle klinge, als habe der Protagonist sich gerade in die Hose gemacht. Doch wer so daherredet, zeigt damit nur, dass er sich noch nie mit literarischer Hocherotik beschäftigt hat. Allerdings kommt uns die Passage, so kunstvoll sie komponiert ist, beim Lesen irgendwie bekannt vor. Und tatsächlich erinnern wir uns nach einer Weile! Schon in seinem Roman »Der Augenblick der Liebe« (2004) hatte Walsers Protagonist (der hier freilich einen anderen Namen trägt) mit einer vergleichbar delikaten Problematik zu kämpfen: »Er spürte, wie sich in der unteren Mitte Wärme sammelte. Sie floß förmlich zusammen. Die Muskulatur schwoll. Sein Geschlechtsteil wollte auf sich aufmerksam machen. Außer ihm sollte nichts mehr spürbar sein. Der angenehme Schmerz des übersteifen Teils. Endlich wieder einmal. Ihm war nach Fortpflanzung.«

Schon hier, in der zwei Jahre zuvor publizierten Variante, zeigt der Dichter eine erstaunliche Meisterschaft in der Schilderung filigranster Gefühlsregungen im komplexen Kosmos männlicher Sexualität. Es sind hier vor allem die versteckten Hinweise und dezenten Zwischentöne, die Lustempfinden und Begehren beim Leser wecken: »übersteifes Teil« – da können Ovid, Boccaccio und Nabokov nicht mithalten!

Selten in der Weltliteratur wurden noch die hauchfeinsten sexuellen Empfindungen des Mannes derart – sagen wir: fachgerecht in moderne erotische Literatur überführt, die ganz ohne sprachliche Klischees auskommt: »Sein Geschlechtsteil wollte auf sich aufmerksam machen.« Besser kann ein wahrer Poet das nicht sagen.

Ich bin mir nicht sicher, ob, um einer besseren Zukunft willen, nicht sämtliche erotische Literatur eingestampft und durch die Werke Martin Walsers ersetzt werden sollte. Na ja. Hmm. Denken wir vielleicht noch einmal darüber nach. Sicher ist jedenfalls: Ein zugegeben eher robuster, dafür aber kristallklarer Walser-Satz wie »Ihm war nach Fortpflanzung« macht uns schärfer als so etwas: »Sein knorriges Liebeszepter ragte forsch zwischen seinen Schenkeln hervor.«

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