Ronald M. Schernikau: Kugelbahn statt Kommunismus

Der Regisseur Florian Fischer hat am Theater Magdeburg Ronald M. Schernikaus »Kleinstadtnovelle« auf die Bühne gebracht

Eher ermüdend: die Magdeburger »Kleinstadtnovellen«-Aneignung nach Schernikau
Eher ermüdend: die Magdeburger »Kleinstadtnovellen«-Aneignung nach Schernikau

Lorenz Krieger, Ensemblemitglied am Theater Magdeburg, tritt nach vorne, steht vorm Publikum – er trägt ein enganliegendes Kleid – und trällert das queerbewegte und irgendwie bewegende Lied »For today I am a child«. Und wenn man Krieger auf der Bühne so sieht – das lange Haar, der zarte Oberlippenbart –, dann weiß man Bescheid: Hier soll ein Schauspieler so aussehen wie Ronald M. Schernikau.

Warum? Schernikaus »Kleinstadtnovelle« steht auf dem Spielplan. In der Ankündigung attestiert das städtische Theater in dessen sachsen-anhaltischer Geburtsstadt dem Text, »eine literarische Sensation« zu sein, was kaum bestreitbar ist, und resümiert: »45 Jahre nach der Veröffentlichung seines Debüts, dessen formale wie inhaltliche Aktualität verblüfft, gilt Schernikaus Werk als Weltliteratur.« Das stellt zumindest unter Beweis, dass das Theater als Ort der Utopie noch nicht erledigt ist.

Schernikau ist natürlich kein Geheimtipp. Aber dass sein Werk angemessen und ausreichend gewürdigt würde, kann man nicht behaupten. Das Attribut »Weltliteratur« wird seinen Veröffentlichungen jedenfalls für gewöhnlich nicht verliehen. Der frühe Aids-Tod des Autors, mit 31 Jahren, wird daran nicht unschuldig sein. Darin, dass sich dieser Schriftsteller dem übermächtigen Zeitgeist zum Trotz selbst einen Kommunisten nannte, wird der weitere, wohl bedeutendere Grund liegen.

»Kleinstadtnovelle«, 1980 erschienen, ist das schmale Debüt eines 19-Jährigen, ein Gegenentwurf zum trivialen Coming-of-Age-Roman. Ein Buch, geschrieben in dem altklugen Ton, den nur haben kann, wer sehr jung und sehr intelligent ist. Es ist die Besserwisserei desjenigen, der Dinge wirklich besser weiß. Und »Kleinstadtnovelle« ist natürlich auch die Geschichte eines schwulen Teenagers, dem man seine Renitenz fast übler nimmt als seine Homosexualität.

Das Sujet dieser selbsterklärten Novelle lässt sich schnell zusammenfassen. Der Protagonist, drangsaliert von der staatlichen Verwahrungsanstalt Schule, schläft mit einem Mitschüler, dem die Konfrontation mit der eigenen Sexualität nicht recht bekommt und der also zum Denunzianten seines »Verführers« wird.

Nun wird in Magdeburg dem Schernikau-Darsteller Krieger, der des Autors »Kleinstadtnovellen«-Alter-Ego b. gibt, auch dessen Kurzzeitgeliebter Leif (Anton Andreew) und die Mutter (Nora Buzalka) auf der Bühne beigestellt. Das Buch, das nicht von dem geschilderten Geschehen, sondern von dessen Reflexion lebt, und das eine Provinzgeschichte zu einer Erzählung über – nicht nur jugendliche – Selbstbehauptung macht, wird also verflacht, indem der Regisseur Florian Fischer es szenisch bloß zu bändigen versucht.

Auf der Bühne ist »Kleinstadtnovelle« leider doch nur die Geschichte eines schwulen Zwischenfalls, der heutzutage wahrscheinlich sehr anders abliefe. Wie Sexualität hier gezeigt wird, ist dabei aufschlussreich: Denn zeigen will man offenbar unbedingt; wie in Hollywood muss dann aber doch alles unter Decken choreografiert werden.

Die kluge Erzählstimme weicht also dem bemühten Dialog. Weil sich ein abendfüllendes Bühnenspektakel selten unter 80 Minuten ereignet, wird der Text großzügig angereichert. Ein paar Murmeln werden geräuschstark in eine überlange Kugelbahn geworfen. Nebel wabert über die Bühne. Sekt wird ausgeschenkt. Ein Kostüm wird um einen gestrickten Penis ergänzt und das Publikum erhält eine performative Veranschaulichung davon, was wohl unter dem Begriff »toxische Männlichkeit« zu fassen ist.

Vollkommen unvermittelt werden Passagen aus Schernikaus »Irene Binz. Befragung« und seiner berüchtigten Rede auf dem letzten Schriftstellerkongress der DDR gesprochen, gespielt, zur Unkenntlichkeit verzerrt. Wer Schernikaus Werk nicht kennt, wird mit den Textfetzen kaum etwas anzufangen wissen. Wer bereits damit vertraut ist, wird sich über die Entpolitisierung, ja letztlich Banalisierung ärgern.

Die Inszenierung hat den Charakter einer Party, bei der die Gäste ihre schlecht gespielte gute Laune präsentieren. Alles soll hier wild und laut und grell sein. Wahrscheinlich, weil man glaubt, das käme dem Autor nahe. Dass der aber nicht auf Effekte, sondern auf Haltung setzte, kommt nicht rüber.

Eine Bühnenadaption, die dem Werk Schernikaus gerecht würde, müsste mehr Eigensinn zeigen, gleichsam das Politische nicht leugnen. Mit »Die Schönheit von Ost-Berlin« (Deutsches Theater Berlin, 2014), »legende« (Volksbühne, 2019) und »der himmel ist ja da. der himmel fängt hier unten an« (Anhaltisches Theater Dessau, 2022) gab es in den vergangenen Jahren einige Versuche, Schernikau theatral beizukommen. Die Magdeburger Inszenierung macht, mag das Bemühen auch ehrenhaft gewesen sein, eher ratlos. Vielleicht wagt es ein anderes Theater nochmal mit etwas mehr Geschick. Bis dahin muss sich das geneigte Publikum die Zeit mit der (Re-)Lektüre von Schernikaus Tausendseiter »legende« vertreiben. Das ist sicher nicht das Schlechteste.

Nächste Vorstellungen: 12., 27. Oktober und 6. November
www.theater-magdeburg.de

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