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Ey, AI
Wo sind die vernünftigen Menschen im Internet und die Künstliche Intelligenz, wenn man sie braucht?
Howdy aus Texas, liebe Lesende,
sind Sie eigentlich für echte oder doch lieber alternative Fakten? Vor ein paar Tagen war der 7. Oktober, der Jahrestag des Anschlags der Hamas auf Israelis, aber Leute in meinem Feed sagen, das sei kein Terrorakt, sondern legitimer Widerstand gewesen. Russische Frauen, die in den USA leben, säuseln auf Tiktok, unter Putin lebe es sich viel besser als bei Uncle Sam, obgleich (mir) klar ist, dass sie von Mother Russia für ihre Posts bezahlt werden. Eine Bekannte auf Facebook prophezeit, dass, wenn Trump nicht wiedergewählt würde, erst eine Revolution aus- und dann Amerika zusammenbräche. Eine Unbekannte auf Instagram schlussfolgert, der Kapitalismus sei schuld an all unseren Problemen. Ein alternatives System schlägt sie nicht vor, aber ich fürchte, in einer Planwirtschaft könnte sie ihre Reels nicht mehr monetisieren.
News aus Fernwest: Jana Talke lebt in Texas und schreibt über amerikanische und amerikanisierte Lebensart.
Einen gemeinsamen Nenner gibt es bei all diesen verrückten Narrativen ̶ sie kommen allesamt aus dem Netz. Dabei könnte es wirklich ein schöner Ort sein, wenn nicht so viele dumme Menschen dort wären. Alphamännlein à la Andrew Tate, die an großen Mikrofonen in kleinen Beanies männliche Überlegenheit vorheucheln. Verschwörungstheoretiker, die denken, »die da oben« ̶ und nicht das Justizsystem ̶ hätten beschlossen, den Vergewaltiger P. Diddy endlich zur Verantwortung zu ziehen, um uns »von etwas Größerem« abzulenken. Wirre Gesundheitsblogger, die vor »giftigen« Lebensmitteln wie Pflanzenölen, die allesamt zu Krebs führen sollen, warnen und gleichzeitig Bio-Süßigkeiten bewerben, weil »bio« ja immer gesund bedeutet. Traditionsverliebte Mutti-Influencerinnen, die ein idyllisches Familienleben inszenieren und ihren Zuschauerinnen ein schlechtes Gewissen einreden, weil diese nicht täglich backen und wie Topmodels aussehen, selbst aber Nannys haben und nach dem Filmen für Insta mit dem Mann (oder dem Liebhaber oder dem Liebhaber des Mannes?) ausgehen, statt die Küche zu putzen. Eine irre Tussi auf Instagram, die Kobolde und Feen sehen kann. Ein selbsternannter Politikexperte, der neulich auf Tiktok behauptete, ein einziger Israeli sei für einen Genozid im Kongo verantwortlich, und eine hanebüchene Zahl an Toten nannte, die dieser Israeli eigenhändig auf dem Gewissen habe, nämlich stolze 14 Millionen. Es regnete fast genauso viele Views, Likes und Reposts wie angebliche Tote. Auch gibt es Tiktok-Filter, die Genozide stoppen sollen, es ist zwar nicht ganz klar, mit welchen Mitteln, aber wohl nicht mit israelischen.
Einerseits hatte die Menschheit noch nie so viel Zugang zu Wissen auf einmal, andererseits sind wir damit überfordert. Desinformation ist überall und wir schenken ihr so schnell Glauben wie einst die Illiteraten im Mittelalter. Wo aber ist da die AI, Pardon, die KI, wenn man sie braucht? Kann man die Maschine nicht zur Bekämpfung von Dummheit einsetzen? Zu irgendwas muss sie doch gut sein. Seit ein paar Jahren wird uns alles Mögliche versprochen, fliegende Taxis, Essen liefernde Roboter und Pakete bringende Drohnen. Bisher habe ich nur defekte »Smart Home«-Schalter, die nicht an allen Wänden funktionieren, einen Frame-TV, aus dessen Rahmen ab und an kein Ton kommt, und einen Spotify-Familienaccount, der gelegentlich statt uns im Wohnzimmer dem Auto meines Mannes Bibi Blocksberg vorspielt. Und statt unseren Alltag zu erleichtern, mischt sich die Künstliche »Intelligenz« auch noch unter die Künstler, schreibt automatisiert-bedeutungsarme Romane und malt verschmiert-überteuerte Roboterbilder. Als hätten wir nicht genug schlechte Humankunst.
Eine Freundin riet mir letztens auch noch, mit ChatGPT mein Schreiben zu verbessern. Wieso sollte ich es verbessern wollen, Sie mögen es doch, oder? Aber, unsicher wie alle Frauen um mich herum, frage ich ChatGPT doch nach dieser Kolumne, worum es hier gehe und worüber ich als nächstes schreiben solle. »Jana Talkes nächste Kolumne für ›nd‹ könnte sich, wie ihre bisherigen Beiträge, wieder mit wichtigen gesellschaftspolitischen Themen beschäftigen. Auch wenn es keine spezifischen Informationen zu ihrem kommenden Artikel gibt, ist davon auszugehen, dass sie weiterhin relevante politische und kulturelle Themen aufgreifen wird«, erwidert mir der »Generative pre-trained Transformer«-Trottel. Immerhin so viel sollte doch stimmen. Oder?
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