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Ines Schwerdtner: Nicht aus dem Nichts
So was gibt’s nur in Krisenzeiten: Ines Schwerdtner, seit gut einem Jahr in der Partei, will Linke-Vorsitzende werden
Barbara Hesse wollte es ganz genau wissen. Die 73-Jährige, die erst seit April Mitglied der Linkspartei ist – nach dem Motto »Wann, wenn nicht jetzt« –, fuhr von Bergen auf der Insel Rügen, wo sie lebt, nach Greifswald. Zum einen, weil dort die Landesarbeitsgemeinschaft »Die Linke hilft« für Mecklenburg-Vorpommern gegründet wurde; zum anderen, weil sie Ines Schwerdtner kennenlernen wollte. Denn Schwerdtner kandidiert auf dem Parteitag am Wochenende in Halle für den Vorsitz, und das machte das Neumitglied Hesse neugierig.
Die Linke hilft – das ist eine Initiative, die man als Schwerdtners Herzensprojekt bezeichnen kann. Im Februar war sie schon dabei, als die Bundesarbeitsgemeinschaft aus der Taufe gehoben wurde, seitdem entstehen regionale Ableger. Sie sollen Leute miteinander verbinden, die in ihren Wohnorten diverse Hilfsangebote betreiben oder planen. Denn Menschen in schwierigen Situationen, etwa im Kampf mit Ämtern und Behörden, zu helfen und sie im besten Falle zur Selbsthilfe zu befähigen, das stecke »tief in der Tradition der Partei«, sagt Schwerdtner in Greifswald.
Dorthin kamen auch ein Doktorand, der Leuten bei »digitaler Selbstverteidigung« helfen möchte, und ein Rechtsanwalt, der Mieter berät. Eine Mitarbeiterin der Rentenversicherung und eine junge Frau, die Studenten bei Problemen hilft. Ein junger Mann, der einfach nur dazu beitragen will, dass die Linke bei der nächsten Landtagswahl im Nordosten »nicht das Brandenburger Schicksal erleidet«. Und neben etlichen anderen eben auch Barbara Hesse, die sich aus eigener Erfahrung mit Arbeitslosigkeit, niedriger Rente und Wohngeld auskennt und keine Lust hat, in ihrer Partei »nur eine Karteileiche zu sein«.
Die Linkspartei steckt tief in der Krise, braucht neues Führungspersonal und dringend einen neuen Aufbruch. Aber wie und wohin? »nd« startet eine Debattenserie über Probleme und Perspektiven: »Die Linke – vorwärts oder vorbei?« Alle Texte der Serie finden Sie hier.
Ines Schwerdtner ist in den letzten Monaten viel herumgekommen in der Linken. Erst kandidierte sie bei der Europawahl und machte Wahlkampf, wobei sie sich Platz fünf auf der Liste gegen den Vorschlag der Parteispitze erkämpfen musste. Gereicht hat es dann doch nicht; Die Linke wurde von den Wählern abgestraft und hat nur noch drei Abgeordnete in Brüssel. Und nun, nachdem die bisherigen Vorsitzenden Janine Wissler und Martin Schirdewan ihren Rückzug ankündigten, ist sie selbst auf dem Sprung an die Spitze der Partei.
Weil sie dabei offenbar nichts dem Zufall überlassen und gut vorbereitet sein möchte, hat sie sich sogar Aufzeichnungen früherer Parteitage angesehen, wie sie neulich erzählte. Man weiß nicht, welche Videos sie ausgewählt hat, aber bei der Linken ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich groß, dass sie auf die eine oder andere heftige Auseinandersetzung gestoßen ist.
Vielleicht ist das genau die richtige Einstimmung auf einen Parteitag mitten in einer existenzgefährdenden Krise. Zumal die 35-Jährige dabei ist, sich in ein erstaunliches Abenteuer zu stürzen. Bisher war sie als Publizistin und Chefin der deutschen Ausgabe des linken Magazins »Jacobin« eine Beobachterin und Kommentatorin – jemand, der mit Abstand auf die politischen Vorgänge schaut. Weshalb sie, bei aller Sympathie und inhaltlichen Nähe, bis letzten Sommer nicht Mitglied der Linken war. Aber jetzt steht sie selbst unter öffentlicher Beobachtung, und da ist der Weg zu beißender Kritik nicht weit. Sie kennt das Geschäft.
Die Politik beschäftigt sie schon lange. Mit 15, 16 verfolgte sie Bundestagsdebatten. Später war sie Praktikantin bei der Linke-Abgeordneten Gesine Lötzsch, das hat sie geprägt. So nachhaltig, dass sie nach dem Politikstudium bei linken Publikationen arbeitete und dabei die Linkspartei immer im Auge behielt. Dabei habe sie fast in jeden Winkel der Linken geschaut. Das am Ende gescheiterte Aufstehen-Projekt von Sahra Wagenknecht hat sie mit Sympathie begleitet, und als Wagenknecht und ihre Anhänger sich letztes Jahr endgültig aus der Linkspartei verabschiedeten, empfand Schwerdtner das auch persönlich als Bruchstelle. Ihr Podcast heißt »Hyperpolitik« – in Auseinandersetzung mit der damit beschriebenen folgenlosen politischen Aufregung und Aktivität -, und nun wollte sie etwas verändern. Sie ist jung, sie ist noch ziemlich neu bei der Linken, aber aus dem Nichts kommt sie nicht.
Als Publizistin war Schwerdtner eine Beobachterin; jetzt steht sie selbst unter öffentlicher Beobachtung.
Mit Ines Schwerdtner könnte jemand aus einer Generation an die Spitze der Linken rücken, bei dem das Ost-West-Schema nicht mehr eindeutig passt. Geboren im Sommer 1989 in Werdau in Sachsen; aufgewachsen in Hamburg, weil die Eltern in der Heimat die Arbeit verloren hatten; Studium in Berlin. Dennoch redet sie viel über den Osten, auch über Klassen- und Sozialpolitik. Nicht zufällig ist sie eine der Bundessprecherinnen der Linke-Arbeitsgemeinschaft Betrieb und Gewerkschaft. Im Gegensatz zum viel kolportierten Vorwurf meint sie nicht, dass Die Linke das Soziale sträflich vernachlässigt habe, aber schon, dass die Partei hier wieder sichtbarer werden müsse.
Weshalb sie sich um den Aufbau des Die-Linke-hilft-Netzwerks kümmert. Bei dem Termin in Greifswald ist auch Mignon Schwenke anwesend, frühere Landtagsabgeordnete der Linken und heute Vorsitzende des Kinderschutzbundes im Kreis Vorpommern-Greifswald. Sie ärgert sich maßlos »über das Märchen, wir hätten unseren sozialen Markenkern vergessen«, und meint, es sei kein Zufall, dass ihre Amtsvorgängerin ausgerechnet einer Linke-Vertreterin die Nachfolge vorschlagen hat.
Auf die Unterstützung solcher Leute kann sich Schwerdtner gewiss verlassen. Eine 100-Tage-Schonfrist dürfte es für sie, sofern sie in Halle gewählt wird, dennoch kaum geben. Nicht von der politischen Konkurrenz und den Medien und auch nicht innerhalb der Partei. Denn die Konfliktlinien werden nach Halle nicht verschwunden sein. Womöglich ist es für Die Linke keine schlechte Variante, dass sich mit Schwerdtner jemand um den Vorsitz bewirbt, der nicht seit Jahr und Tag in Flügelkämpfe und Anfeindungen verstrickt ist, keine Verletzungen mit sich herumschleppt und noch keine verursacht hat. Sie wird davon nicht verschont bleiben, und sie wird bei Bedarf zusehen müssen, sich von denen zu emanzipieren, die sie jetzt im Hintergrund fördern.
Auch der Termin der Bundestagswahl im September 2025 lässt keine Zeit für einen gemütlichen Start. Zumal sie da auch ganz persönliche Ambitionen hat. Sie will sich um die Bundestagskandidatur im Berliner Wahlkreis Lichtenberg-Hohenschönhausen bewerben. Dort hat Gesine Lötzsch seit 2002 das Direktmandat in Serie gewonnen, allerdings zuletzt mit immer weniger Vorsprung auf die Konkurrenz. Wie man hört, wird beim BSW überlegt, Sahra Wagenknecht dort ins Rennen zu schicken. Schwerdtner könnte, wenn sie es klug anstellt, dabei eigentlich nur gewinnen. Falls nicht den Wahlkreis, so jedenfalls politisches Profil und mediale Bekanntheit.
Spricht man mit ihr, kann man den Eindruck haben: Es wird wieder mehr gelacht in der Linken. In einer kurzen Rede beim letzten Parteitag machte sie zwei Gegner der Linken aus: der eine stehe rechts, »der andere ist die Resignation«. Ihr Rezept dagegen heißt »revolutionäre Freundlichkeit«. Letztlich ist Ines Schwerdtner aus dem Grund in Die Linke eingetreten, den Barbara Hesse so formuliert: »Ich will nicht zu Hause sitzen und sagen, mir ist alles egal.«
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