Mischa, der große Dichter (Teil I)

Von einem, der der größte Schrifsteller aller Zeiten wäre, würde er endlich mal ein Buch schreiben

Dieser Stuhl vor gespanntem Lesereisenpublikum ist schon mal für Mischa reserviert.
Dieser Stuhl vor gespanntem Lesereisenpublikum ist schon mal für Mischa reserviert.

Mischa ist ein großer Dichter. Das sagt nicht nur er selbst, wiewohl er selbst es durchaus auch sagt, und das nicht zu selten. Doch nicht nur er selbst sagt es, sondern es sagt auch sein Gefühl. Und sein Gefühl ist sehr zuverlässig, zumindest soweit es ihm ebendieses Gefühl sagt.

Aber Mischa ist wirklich ein großer Dichter, denn das sagt nicht nur er selbst mit seinem Gefühl, sondern das sagen auch andere. Das sagt zum Beispiel auch seine Mame Channa und seine Schwester Mona, und das sagt manchmal sogar sein Vater Fima, der so gut wie nie etwas sagt, aber auch er sagt es, wenn er genug getrunken hat: Undser Mischa, emmes, dos is a grojse ojßtrachter (Erfinder)!

Die zahnlose Tante Toiba sagt es und der taube Nachbar Jascha und der schlaue Schloimo sagt es – und der weiß schließlich, wovon er redet, denn er redet lauter Schmonzes, und davon weiß er auch. Das krächzen die Hühner und das singen die Krähen, das murmeln die Fische und rufen die Würmer. Das sagen der schames (Synagogendiener) und der bahelfer (Lehrergehilfe), das sagt der chassen (Kantor), auch wenn er es nicht ausspricht, ja sogar der Rebbe würde es sicher sagen, wenn er etwas von Mischa gelesen hätte, und das muss schon etwas bedeuten, wenn sogar der Rebbe es sicher sagen würde.

Ezzes von Estis

Alexander Estis, freischaffender Jude ohne festen Wohnsitz, schreibt in dieser Kolumne so viel Schmonzes, dass Ihnen die Pejes wachsen.

Ja, Mischa ist ein großer Dichter. Nur dass er nichts schreibt.

So kommt es wohl auch, dass der Rebbe nichts von Mischa gelesen hat, denn wenn Mischa etwas geschrieben hätte, dann würde der Rebbe es sicher lesen. Und das muss schon etwas bedeuten, wenn sogar der Rebbe es sicher lesen würde. Wenn Mischa etwas geschrieben hätte, dann würde es allerdings nicht nur der Rebbe, dann würde es die ganze Welt lesen, denn Mischa ist ein großer Dichter.

Welch großer Dichter Mischa ist, das erkennt man schon daran, dass er ein großer Dichter ist, ohne überhaupt etwas geschrieben zu haben. Wie groß wird Mischa erst sein, wenn er doch etwas geschrieben haben wird! Denn wenn er etwas schreiben wird, was wird das nur für ein Buch werden!

»Sog zhe mir, was wird das für ein Buch werden?«, fragen ihn immer Mame Channa oder Schwester Mona oder Nachbar Jascha oder Tante Toiba. Oder manchmal auch Vater Fima, aber ohne zu fragen, sondern nur mit seinem Gesicht.

Oj, das wird ein Buch werden, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Das wird ein Buch werden über Menschen und Unmenschen, über Helden und Unholde, über Völker und Gräser, über Tiere und Schnecken, über Pilze und Läuse, über den Staub und die Sterne, über die Täler und Bäche, über die Becher und Teller, über latkes (Kartoffelpuffer) und über oladky (Pfannkuchen), über Wolken und über Balken, über den Nebel und über das Leben, über das Sterben und über das Erben. Es wird erzählen, wie Abraham mit Gott rang, wie Samson Goliath bezwang, wie die Juden das Rad erfanden und wie Tante Toiba die Zähne verlor. Ja, Mischas Buch wird eine ganze Welt werden, wie sie noch kein Buch gesehen hat!

Mame Channa wird es loben und Schwester Mona, sogar Vater Fima, der so gut wie nie etwas lobt, wird es loben, wenn er genug getrunken hat, und der schlaue Schloimo wird es loben, ohne es gelesen zu haben, denn er ist auch so schlau genug. Die Spatzen werden es von den Dächern zirpen und die Hunde werden es in den Gassen zwitschern. Überall wird man schreiben über Mischas Buch, es wird zu Mischas Buch Kommentare geben und Kommentare zu Kommentaren, und es wird die 17. Auflage kommen schon am 16. Tag. Alle anderen Bücher von Menschenhand werden hinabgestürzt werden von den Regalen, in den Büchereien wird es nur noch die Torah geben und Mischas Buch und die Kommentare dazu, und ganze Messen wird man ausrichten nur für sein Buch, sobald Mischa etwas geschrieben haben wird, denn Mischa ist ein großer Dichter.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -