Rachel Jedinak: Liebe überlebt den Hass

Rachel Jedinak überlebte die größte Massenverhaftung von Juden in Paris und hat über diese Erlebnisse eine Erzählung verfasst

  • Frédéric Valin
  • Lesedauer: 6 Min.
Rachel Jedinak hat lange über ihr Lebenstrauma geschwiegen.
Rachel Jedinak hat lange über ihr Lebenstrauma geschwiegen.

Diese Razzia vom 16. und 17. Juni 1942 ist die größte Massenverhaftung jüdischer Menschen in der Geschichte des besetzten Frankreichs. 13 152 Menschen werden im Vel d’Hiv festgesetzt, einer Radrennbahn in Paris. Die meisten werden nach Auschwitz deportiert und dort getötet. Diese Razzia wird zwar unterstützt von den deutschen Besatzungsbehörden, aber – wie auch andere Massenverhaftungen dieser Art zuvor und danach – federführend durchgeführt von der französischen Polizei. Es sind die französischen Institutionen selbst, die die in Frankreich lebenden Jüd*innen ans Messer liefern. Und es ist auch ein großer Teil der französischen Gesellschaft, der diese Beihilfe zur Massenvernichtung jüdischer Mitmenschen stumm begleitet, ihr applaudiert oder sie willkommen heißt.

Überlebt hat diese Verhaftung Rachel Jedinak, aber das ist purer Zufall. Es sind sogar zwei pure Zufälle, reines Glück. Aber der Reihe nach: Rachel Jedinak, geboren 1934, wächst als Tochter sie zärtlich liebender Eltern auf. Vater und Mutter sind aus Polen nach Frankreich ausgewandert, zu Hause wird Jiddisch gesprochen. Der Vater, Abram Psankiewicz, ein sanfter breiter Kerl, bemüht sich, alles richtig zu machen im neuen Land, und meldet sich zu Kriegsbeginn 1940 freiwillig, obwohl die Behörden seine Einbürgerung immer noch nicht vollzogen haben.

Im Mai 1941 wird er verhaftet und anschließend deportiert. Er wird in Auschwitz ermordet. Ein Jahr später wird im Zuge der »Rafle du Vel d’Hiv« (Verhaftung und Deportation Zehntausender französischer Juden) auch die Mutter in das Übergangslager in Drancy verbracht, auch sie wird später in Auschwitz ermordet.

Rachel Jedinak ist unter den Verhafteten dieser Rafle, zusammen mit der Mutter und ihrer Schwester. Sie hat davor die schrittweise Degradierung ihres Lebens erlebt, den gelben Stern, den sie tragen musste, die Rationierungen, die für Jüd*innen gelten sollten, Spielkamerad*innen, die nichts mehr mit ihr zu tun haben wollten, weil sie Jüdin war; den Verlust des zutiefst geliebten Vaters.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Als sich während der Massenverhaftung eine Möglichkeit bietet, dass die beiden Schwestern unbemerkt entkommen können, während die Mutter zurückbleibt, um – sie weiß es wohl – in den Tod geschickt zu werden, weigert sich die kleine Rachel, von der Mutter zu lassen. Die Mutter verpasst ihr daraufhin eine Ohrfeige – die erste und einzige körperliche Züchtigung, die Rachel von ihren Eltern erfahren wird – woraufhin Rachel tatsächlich flieht. Die Mutter wird im Zwischenlager nahe Paris festgehalten. Rachel überredet ihre ältere Schwester, mit dem Bus hinauszufahren, um die geliebte Mutter wenigstens durch ein Fernglas noch einmal erspähen zu können; bis die Mutter mit dem Konvoi Nummer 12 nach Auschwitz deportiert wird.

Die Schwestern, die jetzt bei den Großeltern leben, sind längst nicht in Sicherheit, sie werden bei einer späteren Razzia sogar festgesetzt, am 11. Februar 1943. In jenem Polizeirevier, das die nächste Station zu ihrer Vernichtung sein sollte, wird aber am Eingang eine Frau ihrer ansichtig und schreit, dass die Polizei sich jetzt auch an Kindern vergreife. Es sammelt sich eine Menge, die droht, das Revier zu stürmen: also sagt, um die Lage zu beruhigen, ein französischer Polizist zu Rachel Jedinak und ihrer Schwester: »Fichez le camps.« Diese drei Worte haben beiden sehr wahrscheinlich das Leben gerettet. »Fichez le camps« heißt auf Deutsch so viel wie: »Haut ab«, und wörtlich übersetzt hieße es eher: »Verzieht euch aus dem Lager.«

Sicher sind die beiden auch dann nicht. Sie werden untergebracht in einem Heim für jüdische Waisen, und wann immer irgendeine Behörde die vorgeschriebenen Quoten für ihre Mordtransporte nicht einhalten kann, kommen sie und pflücken sich ihre Opfer unter diesen Mädchen. Später werden Rachel und ihre Schwester aus diesem Grund aus der Unterkunft fliehen, eine Cousine besorgt ihnen falsche Papiere. Rachel wird von einer französischen Familie adoptiert; bis die Mutter durch einen Zufall erfährt, dass ihr Ziehkind jüdisch ist und ihr dann fortwährend mit Denunziation droht. Erst die Befreiung Frankreichs durch die Amerikaner, Briten und Kanadier entlässt sie aus der unmittelbaren Gefahr der Ermordung.

Rachel Jedinak wird danach jahrelang schweigen zu dem, was ihr in ihrer Kindheit widerfahren ist; auch als ihre Tochter ihr vorwirft, dass sie gemein sei, weil alle anderen Kinder Großeltern hätten und sie nicht, schweigt sie noch. Erst als ihr Enkel anfängt, Fragen zu stellen, beginnt sie zu sprechen. Sie geht in Schulen, hält Vorträge und schreibt ebenjenes Buch »Wir waren nur Kinder«, um Zeugnis abzulegen davon, was gute Menschen erleiden mussten in einer grausamen Welt.

Dass Bewegungen wie das BSW den Familiennachzug einschränken wollen, erscheint ob dieser Erzählung noch absurder und menschenfeindlicher als zuvor.

Rachel Jedinak verlässt in diesem Buch nie die Perspektive des verletzten, aber sich geliebt wissenden Kindes. Das Rührende und Bewegende an diesem Buch ist tatsächlich, dass der sinnlose Hass und der Vernichtungswille der Deutschen und Franzosen es nicht vollbracht haben, dass sie die Liebe, die ihre Eltern ihr schenkten, vergaß. Die Botschaft dieses schmalen Buches – das keine Moral transportieren will, nur erzählen – ist ebenjene: Die Liebe trägt die Menschen, niemals ist sie vergeblich. Rachel Jedinak bringt diese Botschaft in eine Reinheit und Klarheit, die gerade deswegen betroffen macht.

Und betroffen machen muss. Denn natürlich weist dieser schmale Band über sich hinaus und stellt auch die Frage, was wir, die Hinterbliebenen, daraus gelernt haben mögen. Dass inzwischen sich nominell links nennende Bewegungen wie das BSW den Familiennachzug einschränken wollen, erscheint ob dieser Erzählung noch absurder und menschenfeindlicher als es zuvor schon der Fall war; dass das Grundrecht auf Asyl neuerdings derart ausgehöhlt wird, dass es kaum mehr noch als Recht zu gebrauchen, sondern als Brosamen entgegenzunehmen ist, und dass diese Art der Aushöhlung eines Menschenrechts auch de facto Menschen tötet, auch daran erinnert dieses kleine, schmale Buch.

Dass Populist*innen von Wagenknecht über Söder und Merz und der FDP bis hin zur AfD, Familien auseinanderreißen wollen, um Deutschland weniger attraktiv für Fremde zu machen, macht dieses Land jeder Menschlichkeit fremd. Sie werden Menschen zwingen, dem eigenen Kind eine Ohrfeige zu geben, um es vor dem Schicksal zu retten, eine liebende Mutter zu haben. Es ist irrig, zu glauben, »Nie wieder ist jetzt« schütze nur die Fremdkörper, die Jüd*innen, Asylsuchenden, Fremden: Es schützt die eigene Befähigung, Mensch zu sein. Auch davon erzählt dieses schmale Buch.

Rachel Jedinak: Wir waren nur Kinder, Frankfurter Verlagsanstalt, 96 S., geb., 18 €.

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -